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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen
Autoren: Ulrike Kolb
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öfter hier solche Seminare stattgefunden hätten. Sie trägt einen dünnen Rock, dessen Saum transparent um die Knie flattert, dazu ein zierliches Jackett. Ihre schlaksigen Beine sind unentwegt in Bewegung, und eine Kette aus blauen Holzkugeln wippt um ihren Hals wie ein Kinderschmuck. Das passt zu ihrem Pferdeschwanz, der, neigt sie den Kopf, mal über die eine, mal über die andere Schulter fällt. Man will sie, wenn man sie so sieht, am liebsten mit ›Kindchen‹ ansprechen, man will ihr über die klare, hohe Stirn streichen, dabei ist ihr Auftreten alles andere als kindlich, im Gegenteil. Sie ist selbstbewusst, ja versiert in ihrer Rolle, vielleicht sogar eine Idee zu versiert, sodass es in manchen Momenten etwas übertrieben wirkt. Ihre Aussprache hat einen leicht sächsischen Ton, und Rottmann muss an seine Großmutter denken und an ihr ›määne glääne Bubbi‹, wie sie seine Mutter gerne genannt hatte – ein Kosewort, das nach ihrem Tod in der Familie als zärtliche Ansprache weiterlebte. So kommt es, dass Rottmann dem Sächsischen, das er selbst nicht beherrscht, ein positives Vorurteil entgegenbringt.
    Die junge Frau bittet Rottmann jetzt, ihr zu seinem Zimmer zu folgen, und indem er hinter ihr die Stufen nimmt, liegt ihm die ganze Zeit der familiäre Kosename auf der Zunge, und als sie sich plötzlich umdreht und fragt, ob er etwas gesagt habe, wird ihm bewusst, dass ihm tatsächlich das ›määne glääne Bubbi‹ aus dem Mund gerutscht sein könnte. Nein, nein, murmelt er, das muss ein Irrtum sein. Mit seinem Rucksack schlenkernd, folgt er ihr über rote Teppichläufer durch den Gang und die Treppe hoch bis in die zweite Etage, wo seine Begleiterin die Tür zu einem sonnendurchfluteten Zimmer öffnet. Er solle doch nur einmal aus dem Fenster schauen, fordert sie ihn auf, ist das nicht herrlich, und sie wendet sich ihm zu, ihm, der eine Idee kleiner ist als sie, was ihm jetzt erst auffällt.
    Seine Antwort ist nichts als Floskel, irgendwas von Danke, vielen Dank, und er gräbt in seinem Rucksack auf der Suche nach dem Geldbeutel, den er soeben beim Einchecken doch noch in der Hand gehabt hatte, aber jetzt nicht finden kann. Er will ihr unbedingt ein Trinkgeld geben. ›von Bülow‹, so steht es auf einem kleinen Namensschild an ihrem Revers. Sie stößt beide Fensterflügel auf und lehnt sich hinaus, indes Rottmann sich aufs Bett fallen lässt, um besser den Rucksack durchwühlen zu können. Dabei muss er immer wieder zu ihr hinschauen. Sie hat ihm dem Rücken zugekehrt, und er beobachtet ihren Rocksaum, der ihre Kniekehlen auf bezirzende Weise umspielt. Da bückt sie sich, hebt seinen Geldbeutel vom Boden auf und reicht ihn Rottmann mit einer unvergleichlichen Geste von ironischer Grazie, die ihn sprachlos macht.
    Könnte er sich in diesem Moment als einen Fremden sehen, würde er in herzhaftes Lachen ausbrechen angesichts seines verdatterten Gesichtsausdrucks bei geöffnetem Mund und herabhängender Unterlippe. Die junge Frau steht im Gegenlicht, kleine Haarflusen haben sich leuchtend um ihr Kopfrund aufgerichtet, Rottmann greift sich ans Herz und entschuldigt sich für seine Zerstreutheit, immer noch sitzend und zu ihr emporblickend. Sie nimmt den Zehneuroschein in Empfang, den er ihr reicht, und blickt ihn dabei an, als wollte sie sagen, schon gut, schon gut, Tölpel, alles verziehen. Ihrem Mund entschlüpft ein beiläufiges Danke und der Wunsch zu einem angenehmen Aufenthalt, genauer gesagt, ›Guude Tage, mein Herr, vielleicht gennse hier wasse sonstwo nich gennen‹. Und zwinkernd wie eine Krankenschwester, die das zur Schau getragene Leiden ihres Patienten für arg übertrieben hält, verlässt sie den Raum und den aufspringenden Rottmann, der ihr durch die geöffnete Tür nachblickt.
    Aber Rottmann leidet wirklich. Seit Wochen hat er kaum mehr als zwei Stunden pro Nacht geschlafen, zumindest glaubt er das. Wenn er in den Spiegel sieht, schaut ihn eine Theatermaske an, ein Gesicht, dem der Maskenbildner zu viel Grau unter die Augen und in die Falte zwischen Nase und Wangen aufgetragen hat, lemurenhaft, am Ende angekommen. Früher wären ihm weiß Gott was für Sprüche eingefallen, früher wäre er neben die junge Frau ans Fenster getreten, und zwar atemnah, hätte herausgefunden, aus welchem Land sie oder ihre Eltern stammen, hätte
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