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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen
Autoren: Ulrike Kolb
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mit »Bieloo« gemeldet hat, und sie hat sich dabei eine reife Dame mit üppigem Busen vorgestellt. Die junge Frau, die jetzt mit schnellen Schritten vor ihr die Treppen hochsteigt, kann verschiedener von der, die ihr die Stimme am Telefon suggerierte, nicht sein.
    Es wird sich alles ein bisschen verschieben, sagt sie, lassen Sie sich nur Zeit. Der Herr Professor scheint sich etwas zu verspäten.
    Margot streckt sich auf dem Bett aus, sieht auf verwinkelte Ecken mit Wandschrägen und Balken. Dachstuben haben etwas Besänftigendes für sie, vielleicht weil sie Erinnerungen an früher wachrufen, als sie noch schlafen konnte. Etwa an die erste Studentenbude, ein Zimmer ohne Toilette und Waschbecken, einfach nur eine ausgebaute Dachkammer. Damals schlief sie noch tief und fest, auch wenn die Musik nebenan so laut war, dass sie manchmal glaubte, sie komme aus ihrem eigenen Radio. Damals, das heißt gleich nach dem Internat, als sie berauscht war von der plötzlichen Freiheit, als alles möglich war, alles, einfach alles. Der erste Sex mit einem Kommilitonen, missglückte Versuche, bis die ›kleine Operation‹ endlich klappte. Der Kommilitone, der von der Telefonzelle ein paar Straßen weiter den ärztlichen Notdienst anrief, weil sie Angst hatte zu verbluten, und dann der alte Doktor, der dem Tollpatsch die Leviten las.
    Da sind Sie aber ziemlich brutal vorgegangen, mein Freund.
    Das war Freiheit, wir waren besoffen von Freiheit, und dazu gehörte, »es« einfach so zu machen, ohne große Liebe, schlicht unter dem Motto, da muss man durch, und danach wurden mit einem Tauchsieder Spaghetti gekocht.
    Was willst du eigentlich hier, hast du nicht die letzte Zeit wieder besser geschlafen, eigentlich zum ersten Mal seit Jahren endlich wieder vier Stunden am Stück?
    Aber was heißt ›letzte Zeit‹? Die Tage, Monate und Jahre fließen ineinander … du weißt nicht mehr, wann etwas angefangen hat und wann es zu Ende ging … Seit wann er sich herangeschlichen hat, der Horror Nacht. Wann es anfing, dass du panisch wirst bei dem Gedanken an die Stunden nach dem Sonnenuntergang. Dass du dir angewöhntest, alle paar Minuten auf die Uhr zu sehen und zu zählen und dich darüber zu wundern, wie wenig Zeit vergangen ist seit dem letzten Blick auf das Ziffernblatt. Dass die Konturen zwischen Nacht und Tag und Tag und Nacht zu einer Fläche ausgelaufen sind, dass es keinen Anfang mehr gibt und kein Ende … Wie lange ist es her, dass du morgens voller Lust in die Stadt gefahren bist, um ein Kleid zu kaufen, oder Schuhe, deren Preis niemand erfahren durfte, närrisch vor Freude bei dem Gedanken ›ich mache was ich will‹ … wie lange ist es her, dass Lynns Stimme verschwunden ist, Lynns neugierige, stets warme Stimme? Wann ist sie gestorben? Vor zwei Jahren oder vor drei? Nur dass es Herbst war, weißt du noch. Der Herbst könnte deine Zeit sein, das hat Lynn einmal gesagt, und du weißt eigentlich gar nicht genau, was sie damit gemeint hat.
    Wie lange ist es her, dass ihr euch getrennt habt, Franz und du, dass er ausgezogen ist? Und wie lange ist der Morgen her nach der Nacht, in der du zum ersten Mal überhaupt kein Auge zugetan hast? Als dich morgens im Büro die plötzliche Idee überfiel, an deinen Lidern hingen Haare, die dir übers Gesicht bis zum Kinn fallen? Wie lange ist es her, seit der Folterer anfing, dich ins Visier zu nehmen? Dein persönlicher Folterer, der dir vertraut ist wie nichts sonst. Kill him! (O-Ton Franz). Und wann hast du angefangen, mit ihm zu sprechen, weil du dachtest, er würde irgendwann antworten … Wie kommt es, dass du überhaupt noch lebst? Dass du immer noch bei dieser Komödie mitmachst, bei diesem Spiel ›törichte Hoffnung‹? Wie kommt es, dass du dir immer noch die Mühe machst, zu duschen, die Schuhe anzuziehen, zum Arzt zu gehn, dich in diese Röhre schieben zu lassen … Wie kommt es, dass es dir nicht längst egal ist, was das Labor des Onkologen herausfindet? Wie kommt es, dass in dem Film ›Margots Leben‹ immer noch Szenen auftauchen, in denen du ein Brautkleid trägst oder in denen Franz’ Hand sich auf eine bestimmte Stelle deines Körpers legt, oder dass du einen fünf Tage alten Kinderfuß auf der Oberlippe spürst und seinen Duft einsaugst? Oder der Augenblick, als du zum ersten Mal vor einer Klasse standest und deine eigene
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