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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen
Autoren: Ulrike Kolb
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durch die angrenzenden Räume. Gleich nebenan ist alles für eine Veranstaltung vorbereitet, mit Stuhlreihen und einem kleinen Tisch für den Vortragenden. Eine offene Tür führt zu zwei kleinen Räumen, deren Wände mit dicht gefüllten Regalen zugestellt sind. Die oberen Reihen sind durch zierliche Leitern zu erreichen. Überall darin Bücher, gereiht und gestapelt, chaotisch wie in einer privaten und häufig benutzten Bibliothek. Von dort aus geht es durch eine geöffnete Flügeltür in einen langgestreckten Salon, zu dessen einer Seite eine Reihe bodentiefer Fenster den Blick in einen weiten Park freigibt. An der Längswand gegenüber den Fenstern bildet eine eiserne Empore eine weitere Ebene, die über eine ziselierte Wendeltreppe zu erreichen ist. Auch dort oben sieht man Regale, sie reichen bis zur Decke und sind vollgestopft mit Büchern. Der Raum ist in einem müden Blau gestrichen und mit Sesseln und Sofas aller Stilrichtungen möbliert, deren Bezug an manchen Stellen abgewetzt ist. Man sieht, kaum ein Möbelstück ist neu. Dazwischen Couchtische, auf denen sich Kerzenleuchter und Zeitschriften und alle möglichen kleinen Dinge befinden. In einer Ecke unter der Empore steht ein Flügel, dessen schwarzer Lack stumpf geworden und an manchen Stellen abgeblättert ist.
    Am Ende landet Rottmann in einem Wintergarten, dem Speisesaal, der an drei Seiten von Glaswänden umfasst ist. Er ist angefüllt von einem Sammelsurium unterschiedlich großer weiß gedeckter Tische. Die fensterlose Wand ist von einer riesigen Fotografie, die einen etwas ramponierten Theatersaal zeigt, fast ganz bedeckt. Ein halb geraffter Vorhang gibt den Blick auf eine leere Bühne frei, ein Bild tiefer Verlassenheit. Rottmann blickt es lange an und fragt sich, was es ist, das diese Verlassenheit bewirkt. Vielleicht weil alles so aussieht, als sei hier einmal Leben gewesen, dessen geheimer Widerschein sich noch im Dunkel hinter der Bühne andeutet.
    All das weckt die widersprüchlichsten Regungen in Rottmann. Er ist froh, nicht in einem dieser überkandidelt renovierten Häuser gelandet zu sein, gegen die er eine tiefe Aversion empfindet, wie er überhaupt alles Feingemachte verabscheut. Zugleich aber meint er, etwas merkwürdig Gewolltes hier zu wittern, das ihm genauso wenig behagt wie das Feingemachte und das in ihm sofort den Verdacht von Ideologie wachruft. Vielleicht weil er sich an Zeiten erinnert fühlt, in denen er selbst übertrieben ökologischen und linken Ideen verfallen war, die ihm heute peinlich sind. Aber dann wieder beruhigt er sich, dazu ist das Ganze hier zu gepflegt, die Renovierung zu professionell, zu gut durchdacht. Auch die Fotografie spricht gegen Ideologie, sie ist einfach zu gut, denkt er. Er betrachtet das Bild jetzt von nahem, setzt die Brille auf, sucht vergeblich nach einer Signatur, geht wieder auf Abstand und überlegt, ob es das Werk einer Frau oder eines Manns ist. Ganz gefangen genommen davon, überrascht er sich dabei, wie er in dem Theaterraum umherwandelt, und wie sich die Bühne öffnet und weiterführt in andere Räume.
    So sinnierend über die Frage, ob er bleiben oder sich einfach und bevor jemand von ihm Notiz genommen hat wieder davonmachen soll, schiebt er den Flügel einer zur Terrasse führenden Glastür auf und erblickt in der Scheibe plötzlich eine Frau, oder besser die Spiegelung einer Frau in einem Sessel. Dabei hat er sich doch die ganze Zeit allein in dem Raum geglaubt. Vielleicht ist es nur ein Bild, das da irgendwo hängt, ein Bild einer Frau, die sich in einer Glastür spiegelt?
    Die Frau trägt eine dunkle Kappe auf hochgestecktem Haar, den Kopf hält sie schräg zur rechten Schulter geneigt, und auf ihren Knien liegt eine aufgefaltete Zeitung. Der Gedanke, dass sie ihn beobachtet haben könnte, verwirrt ihn. Er vermeidet es, sich umzudrehen. Ihm ist, als habe er etwas nicht ganz Gesellschaftsfähiges getan, etwas Anstößiges, und wieder steigt in ihm ein Gefühl auf, das ihn beherrschte, als er ein Junge war. Warme Pein überrieselt ihn. Das ist schon ein richtiger Tick bei dir, die Sache mit dem Nasejucken, hat seine Frau neulich behauptet, und sie finde seinen Finger an besagter Stelle ganz besonders unappetitlich. Wenn du wüsstest, wie das aussieht, hatte sie (unter anderem) gesagt, als sie einander Wahrheiten an den Kopf schleuderten, die sie später
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