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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia
Autoren: Thomas Thiemeyer
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    Donnerstag, 4. Februar
    Im Regenwald des Kongo
     
    Namenlose Ewigkeit.
    Welt aus Jade.
    Vergessenes Reich voller Wunder.
    Wie ein schwärender, dampfender Ozean aus Chlorophyll überzog der Dschungel das Land. Träge gegen die Ufer der Zeit schwappend , bereit, das Licht der Sonne aufzusaugen, die jenseits des Horizonts emporstieg. Ein neuer Morgen ergoss sich über die Kronen der Bäume und vertrieb die Dunkelheit in die Tiefe des Urwalds.
    Mit dem Licht kamen die Stimmen. Das Kreischen der Graupapageien, das Schnattern der Schimpansen, das Zirpen der Vögel. Bunte Farbtupfer stiegen aus dem schützenden Blätterdach auf und fingen die ersten Lichtstrahlen ein. Schwalbenschwänze, Pfauenaugen und Monarchfalter umkreisten einander im schweren Duft der Blüten. Sie tanzten einen taumelnden, berauschten Tanz, der nur vom gelegentlichen Zustoßen hungriger Gabelracken unterbrochen wurde, die blitzschnell auftauchten und nach einem kurzen Aufleuchten ihres stahlblauen Gefieders wieder in der Dunkelheit verschwanden, den Schnabel voller Futter für die immer hungrige Brut.
    In den Tiefen des Dschungels war von der Ankunft des Tages noch wenig zu spüren. Die ganze Nacht hindurch hatte es geregnet. Der Morgennebel hing wie eine herabgefallene Wolke zwischen den mächtigen Stämmen der Urwaldriesen und verschluckte jeden Laut.
    Egomo lief leichtfüßig über den Untergrund, der knöcheltief mit einer Schicht halbverwester Pflanzenfasern bedeckt war. Der Boden war aufgeweicht und federte bei jedem Schritt. Fast hätte man glauben können, eine Antilope zu beobachten, so flink war der Pygmäenkrieger unterwegs. Er glitt durch die Dämmerung, während er Dornengestrüpp auswich und unter Luftwurzeln hindurchtauchte. Die Tropfen auf seiner Haut funkelten im ersten Morgenlicht wie Kristalle.
    Egomo gehörte zum Stamm der Bajaka. Schon früh am Morgen hatte er die einfachen Blätterhütten seines Dorfes verlassen und war in die Finsternis des Regenwaldes eingetaucht. Ziel seiner Jagd war der Zwergelefant, ein geheimnisumwittertes Geschöpf, das alle außer ihm für ein Hirngespinst hielten.
    Einige behaupteten, es handele sich um einen jungen Doli, so nannten die Bajaka die scheuen Waldelefanten. Aber er hörte nicht auf ihr Gerede. Er wusste, dass der Zwergelefant keine Einbildung war, und er war sich sicher, wo er suchen musste. Mit federnden Schritten bahnte er sich seinen Weg durch das Dickicht. Irgendwo über dem Horizont war die Sonne aufgegangen, hier unten jedoch, im Reich des ewigen Dämmerlichts, herrschte noch Stille.
    Egomo war der Einzige seines Stammes, der behaupten konnte, den Zwergelefanten jemals gesehen zu haben. Drei Jahre war es jetzt her, dass er dem scheuen Bewohner der Sumpfwälder Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Seit dieser Zeit war kein Tag vergangen, an dem er nicht auf ihn angesprochen wurde, kein Tag, an dem er nicht an ihn gedacht hatte. Die Skepsis, mit der man seiner Geschichte begegnete, war groß, doch noch größer war die Neugier. Selbst die erfahrenen Jäger lauschten gebannt seinen Worten, und immer wieder musste er von jener schicksalhaften Begegnung erzählen. Mit Schlamm überzogen hatte der Zwergelefant vor ihm gestanden, nur wenige Meter von ihm entfernt, halb verborgen in dem meterhohen Sumpfgras rund um den Lac Télé. Aufmerksam, wie er war, hatte er Egomo sofort bemerkt, doch hatte er noch einige Sekunden verharrt, ehe er mit einem protestierenden Schnauben im Wasser verschwunden war. Vielleicht war das der Grund, warum bisher nur Egomo den Elefanten gesehen hatte: Niemand aus seinem Volk hatte sich jemals so weit an den verfluchten See herangewagt. Der Lac Télé lag in der verbotenen Zone. Es ging das Gerücht, dort lebe ein Ungeheuer. Tief auf dem Grund des Sees warte es darauf, dass unvorsichtige Menschen sich zu nahe an das Spiegelwasser heranwagten, um sie dann zu packen und in die grüne Tiefe zu ziehen. Niemand hatte dieses Wesen bisher zu Gesicht bekommen, doch alle Pygmäen im Umkreis von tausend Kilometern kannten die Sage von Mokéle m’Bembé , der so riesig war, dass er ganze Flüsse aufstauen konnte. Hartnäckig hielten sich Gerüchte, dass vor über dreißig Jahren eines jener Ungeheuer getötet worden war. Doch von wem, das wusste niemand. Auch nicht, was man mit dem Kadaver gemacht hatte. Fragte man genauer nach, so hieß es, man habe die Informationen vom Freund eines Freundes eines entfernten Verwandten, der mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr
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