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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia
Autoren: Thomas Thiemeyer
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bewahren.
    »Ich würde was drum geben, wenn ich’s wüsste«, antwortete ich und hob das Kinn. »Meinen Sie ernsthaft, ich hätte mich in Jackett und Lederschuhe gezwängt, wenn ich vermuten würde, dass mir ein gemütliches Beisammensein bevorsteht?«
    »Dann erwarten Sie etwas anderes?«
    »Um ehrlich zu sein, ich habe keinen Schimmer von dem, was mich erwartet. Ich weiß nur, dass ich direkt aus London komme und mir ganz wehmütig ums Herz wird, wenn ich an mein Sweatshirt und die Jeans im Koffer denke.«
    Der Pilot wandte mir sein Gesicht zu und taxierte meine Kleidung. Dem Blick nach zu urteilen, den er mir hinter seinem Visier zuwarf, schien er zufrieden zu sein.
    »Sie haben die richtige Wahl getroffen, Mr. Astbury. Wie Sie wissen, entstammt Lady Palmbridge altem englischen Adel und schätzt gute Kleidung. Auch wenn sie etwas lockerer geworden ist, seit sie in den USA lebt. Nur an der Krawatte müssen Sie noch arbeiten. Der Knoten sitzt schief. Übrigens, ich heiße Benjamin Hiller und bin Mrs. Palmbridges persönlicher Assistent. Genau genommen bin ich ihr Pilot, ihr Chauffeur und ihr Mädchen für alles. Seit dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren braucht sie mich mehr denn je. Nennen Sie mich einfach Ben.«
    Er streckte mir seine Hand entgegen, und ich schlug ein.
    »David«, entgegnete ich knapp.
    Bens Hand fühlte sich warm und trocken an, ganz im Gegensatz zu meiner. Während in mir der Verdacht keimte, dass meine Nervosität ziemlich peinlich wirken musste, blickte ich mich nach einer spiegelnden Oberfläche um. Was Krawatten betraf, so war ich ein Tölpel und ohne Spiegel so gut wie hilflos. Ich trug die Dinger nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Ja, mehr noch, ich hasste sie, und das, obwohl man in England schon fast mit Krawatte geboren wurde. Vielleicht auch gerade deswegen. Krawatten und Anzüge, all diese Attribute geschäftlichen Erfolgs waren Dinge, mit denen ich mich nicht abgeben wollte. Sie waren nichts weiter als ein Schutzpanzer, mit dem man sich gegen das tägliche Leben wappnete und unangreifbar machte.
    Ich nestelte an dem Knoten herum und überlegte kurz, ob ich erzählen sollte, dass Lord und Lady Palmbridge Jugendfreunde meines Vaters waren und ihre Tochter Emily meine erste große Liebe. Doch ich verwarf den Gedanken wieder, denn ich wollte Hiller nicht unnötig ablenken. Er schien es als sportliche Herausforderung anzusehen, im Tiefflug über die Wellenberge zu gleiten. Vor uns stob ein Schwarm Möwen in alle Himmelsrichtungen davon. Im Licht des frühen Nachmittags wirkten sie wie Schneeflocken. Ich wollte schon fragen, ob die Vögel keine Gefahr darstellten, als ich Hillers Grinsen bemerkte. Er schien nur auf meinen ängstlichen Einwand gewartet zu haben. Doch diesen Triumph wollte ich ihm nicht gönnen. Ich überlegte, wie es sich wohl anfühlte, wenn eines der Rotorblätter gegen die Klippen schlug und in weitem Bogen davonsegelte, während wir ins Meer stürzten.
    Kein guter Gedanke.
    »Wie ist sie denn so?«, fragte ich, um Ablenkung bemüht.
    »Wen meinen Sie? Die Lady? Ich dachte, Sie kennen sich. Ich habe gehört, sie war eine gute Bekannte Ihres Vaters.«
    Ich hob die Augenbrauen. Hiller schien mehr zu wissen, als ich ahnte. »Ja, das stimmt«, gab ich zu. »Aber ich war erst zehn, als die Palmbridges uns auf unserem Landsitz besuchten. Der Lord und mein Vater hatten früher viel geschäftlich miteinander zu tun, aber meist in London. Ich bin Lord und Lady Palmbridge nur bei dieser einen Gelegenheit persönlich begegnet, denn sie verließen England kurz darauf und zogen in die USA. Danach riss der Kontakt ab.«
    Ben zog die Maschine auf eine Höhe von etwa hundertfünfzig Meter hoch. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
    »Seit dem Tod ihres Mannes ist Mrs. Palmbridge stark gealtert«, sagte er. Er schien seine Chefin zu mögen. »Hat man Ihnen von dem Paket erzählt?« Ich schüttelte den Kopf und blickte ihn fragend an. »Sie erhielt es vor einer Woche. Irgendetwas war in ihm, was sie zutiefst erschüttert hat. Es stammte von ihrer Tochter.«
    »Von Emily?«
    »Sie kennen sie? Oh ja, natürlich, ihre Anwesen befanden sich ja beide in Hever, nicht wahr? War das nicht dort, wo auch Winston Churchill seinen Landsitz hatte?«
    Ich nickte. »Er wohnte gleich nebenan, in Chatwell.«
    »Noble Gegend. Emily hat mir viel darüber erzählt und seitenweise Bilder von den edlen Backsteinhäusern gezeigt. Sie können sich vorstellen, dass sich ihre Geschichten von
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