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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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Kapitel eins
    Holly
     
    So viel Ärger wegen einer Blechkonserve!
    Ein kleiner kühler Gegenstand, verbeult und unbeschriftet, kaum größer als zwei meiner Fäuste. Nichts, von dem ich je gedacht hätte, dass es mich in Schwierigkeiten bringen könnte. Und dennoch laufe ich jetzt um mein Leben. Mit der rechten Hand umgreife ich meine Beute, meine Finger sind verschwitzt und ich befürchte, die Büchse könnte mir entgleiten. Dann wäre alles umsonst gewesen. Wenn ich geahnt hätte, von welch hohem Wert dieses Ding für meine Mitmenschen zu sein scheint, hätte ich es vermutlich an Ort und Stelle unter dem Schutt belassen, wo ich es gefunden habe.
    Ich bin eine schnelle Läuferin. Jeden Morgen drehe ich noch vor dem Frühstück meine Runden durch die Häuserschluchten, weshalb ich mir gute Chancen ausrechne, meinen unliebsamen Verfolger abzuhängen. Ein kurzer Blick über meine Schulter verrät mir, dass er das nicht so sieht. Er ist noch immer da. Ich schätze die Distanz auf weniger als fünfzig Yards. Obwohl ich sein Gesicht nur flüchtig sehen kann, erkenne ich die Entschlossenheit darin. Sein dunkelblauer einteiliger Anzug, den das System den männlichen Einwohnern zur Verfügung stellt, ist ab dem Knie abwärts völlig zerrissen.
    Ich richte meine Konzentration wieder auf die Straße vor mir. Ich kenne jeden Winkel, jede Kreuzung, jedes Gebäude in diesem Teil der Stadt. Leider weiß ich auch, dass von einem Grenzufer zum anderen weniger als eine Meile liegt. Ich muss die Richtung ändern, am besten nach links, denn auch rechts würde mich nach wenigen hundert Yards nichts als Wasser erwarten. Die Stadt steht auf einer Landzunge, dahinter ist nichts als Wasser. Wasser, ja, und die Brücken natürlich, die hinüber in die Welt der Obersten führen, aber dort bin ich nie gewesen.
    Ich wähle bewusst nicht den Weg über die breite Hauptstraße, obwohl sie glatt und frei von Schutt ist. Heute laufe ich nicht, um zu trainieren. Ich laufe, weil ich die Konservendose unbedingt behalten möchte.
    Vor mir erstreckt sich ein weites Trümmerfeld. Ich muss einen Hang hinaufsteigen, lose Gesteinsbrocken rollen hinab auf den Gehsteig, ich finde kaum Halt. Ich kann mich nur mit einer Hand an den aus der Ruine herausragenden Stahlträgern festhalten, weil ich mit der anderen die Büchse umgreife. Es ist gefährlich. Wenn ich stürze, rutsche ich meinem Verfolger direkt in die Arme.
    Zwischen dem Schutt und dem Stahl liegen Glassplitter, die den Aufstieg noch riskanter machen. Ich drehe mich nicht um. Durch mein eigenes Keuchen hindurch vernehme ich das Ächzen des Mannes, der ebenfalls versucht, den Berg zu erklimmen. Aber er ist älter als ich, bestimmt schon über vierzig. Außerdem kenne ich mich aus, ich klettere häufig zwischen den Schuttbergen herum, von denen es in der Stadt Hunderte gibt.
    Ich erklimme den Gipfel, mit zwei langen Sätzen erreiche ich einen Container. Ein dumpfes metallisches Geräusch erklingt, als ich mit einem Satz auf dessen Dach lande. Nur einen Augenblick später hetze ich durch eine schmale Gasse. Die Gebäude rechts und links davon sind nicht ganz so zerfallen wie jene direkt an der Hauptstraße. Noch einmal drehe ich mich kurz um, aber ich kann meinen Verfolger nicht mehr sehen. Ich glaube weder, dass er genauso schnell wie ich über die Ruine geklettert ist, noch, dass er weiß, welchen Weg ich eingeschlagen habe. Dennoch renne ich weiter. Ich renne, bis ich das Gebiet erreiche, in dem die verbliebenen Häuser niedriger sind als jene unmittelbar an der Spitze der Landzunge. Hier wohnen die meisten Menschen, denn die Obersten haben die kleineren Gebäude teilweise wieder aufbauen lassen. Natürlich stehen auch in diesem Viertel die meisten Häuser leer. Die Straßen sind verlassen, meine Schritte hallen von den Wänden wider. Man begegnet nicht häufig anderen Einwohnern. Wenn man es darauf anlegt und die richtigen Plätze kennt, kann man einen ganzen Tag lang durch die Stadt laufen, ohne auf andere Menschen zu treffen. Eigentlich hatte ich das auch heute beabsichtigt, als ich downtown in den Überbleibseln der Ruinen nach interessanten Relikten aus der alten Welt gesucht habe. Ich hatte nicht damit gerechnet, von jemandem dabei beobachtet zu werden.
    Ich verlangsame mein Tempo, denn allmählich brennen meine Muskeln, mein Herz hämmert in einen unerbittlichen Rhythmus gegen meine Rippen. Noch ein Blick zurück. Niemand ist mir gefolgt. Ich wage es, stehen zu bleiben. Ich stelle die
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