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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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eigentlich nicht traurig sein, denn es ist das beste, das man erreichen kann. Ich bin nie in der Welt jenseits der Brücken gewesen, aber meine Bücher berichten von einem Paradies. Jeder möchte dorthin.
    Wir erreichen den Eingang zum Park. Das ist der einzige Ort, an dem keine Häuser stehen. Dort gibt es sogar Seen und Pflanzen, wenn auch nur wenige. Nirgendwo sonst in der Stadt gibt es Pflanzen.
    Wir gehen eine Allee entlang, die Menschen drängen sich nun enger zusammen. Wie eine Prozession schreiten wir voran, bis wir einen großen gepflasterten Platz erreichen. Groß ist eine Untertreibung, er ist riesig. Tische und Stühle stehen in Längsreihen nebeneinander, hunderte, tausende. Ich habe sie nie gezählt. Wenn es regnet, spannen die Obersten eine gewaltige weiße Plane über alle Tische, die an Metallpfosten befestigt wird. Heute ist jedoch ein schöner Tag.
    Jeder hat einen festen Platz, der mit seiner Nummer gekennzeichnet ist. Andernfalls wäre das Chaos nicht zu beherrschen. Wir sitzen am Tisch des neunzehnten Bezirks, zum Glück müssen wir nicht allzu weit gehen. Der Bezirk mit der höchsten Nummer ist siebenundfünfzig. Seine Einwohner tun mir leid, sie müssen bis zur letzten Tischreihe laufen.
    Die Mahlzeiten verlaufen immer gleich. Mir dröhnt das Gemurmel der Menschen in den Ohren, obwohl jeder leise spricht oder gleich ganz schweigt. Jeder fühlt sich zu diesen Anlässen seltsam befangen, was wohl an den bewaffneten Staatsmännern liegt, die in Abständen von einigen Yards um den Platz herum stehen. Carl hat mir einmal erklärt, dass die Nahrungsaufnahme gar nicht anders stattfinden könnte, weil die Leute sich gegenseitig an die Kehle springen würden, wenn die Obersten uns gestatteten, das Essen außerhalb dieses Ortes einzunehmen. Nach meiner Erfahrung mit der Nahrungskonserve heute Nachmittag glaube ich es ihm mehr denn je.
    Aus einem riesigen Container, den die Obersten mit einem Hubschrauber von der anderen Seite der Brücke hergeflogen haben, bringen schwarz gekleidete Männer und Frauen das Essen an jeden Tisch. Das dauert jedes Mal furchtbar lange.
    Wir essen fast jeden Abend dasselbe. Es gibt warmen Vitaminbrei, eine Scheibe Brot und ein Stück Obst, dazu Wasser. Das Essen enthält alles, was der menschliche Körper benötigt, um gesund zu bleiben. Es schmeckt mir vor allem dann immer besonders gut, wenn die Geschmacksrichtung einmal in der Woche wechselt. Leider ist heute nicht so ein Tag.
    Meine Mitbewohner und ich müssen fast eine halbe Stunde warten, bis unsere Teller vor uns auf dem Tisch stehen. Lustlos löffle ich ihn leer, dabei irrt mein Blick immer wieder zu Neal, der mir gegenüber sitzt. Er isst mit ebenso wenig Appetit wie ich, doch er hält den Kopf gesenkt und sieht mich nicht an. Seine dunkelblonden welligen Haare hängen ihm wie ein Vorhang ins Gesicht.
    Wir dürfen erst aufstehen, wenn alle ihre Teller geleert haben, was wiederum mehr als eine Stunde dauert. Bezirksweise verlassen wir die Tische, um Chaos zu vermeiden. Erst, als wir aus dem Park heraus sind, wird die Stimmung wieder ausgelassener. Jetzt höre ich die Menschen wieder lachen. Neal legt erneut seinen Arm um mich.

Kapitel zwei
    Holly
    Vorsichtig steige ich über die Anhäufung von Metallrohren und Ziegelsteinen hinweg, dazwischen ragen ganze Brocken von Füllmaterial aus den Wänden der umliegenden Gebäude, von denen die meisten völlig zerstört sind. Von dem ehemals hoch in den Himmel aufragenden Haus neben uns fehlt das obere Drittel. In diesem Viertel unserer Stadt ist die Zerstörung am größten. Ich möchte mir nicht meinen frischen Anzug verschmutzen oder gar zerreißen, weshalb ich eher missmutig neben Neal herlaufe. Er hat darauf bestanden, mir etwas zeigen zu dürfen. Was genau, hat er nicht gesagt. Es sei eine Überraschung. Ich frage mich, weshalb wir dazu ausgerechnet ans Ostufer gegangen sind. Hier gibt es nichts als zerstörte Straßen, deren Asphaltschicht aufgeplatzt und weggebrochen ist, ganze Teile davon sind im Wasser versunken, denn das Ufer grenzt hier direkt an die Straße. Senkrecht dazu ragen fast fünfzig Yards lange schmale Stege ins Wasser hinein. Carl hat mir einmal erzählt, dass Menschen in der Vergangenheit Wasserfahrzeuge besessen hatten, die dort vertäut wurden.
    Die Straße ist sehr breit, fünf weiße Linien unterteilen sie in Längsrichtung in mehrere Spuren. Ich weiß, dass es einst Fahrzeuge gegeben hat, für die diese Wege angelegt wurden, aber sie erscheinen
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