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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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meine Beute in Augenschein. Er wiegt sie erst in der rechten, dann in der linken Hand. »Sollen wir sie mal öffnen?« Seine blauen Augen funkeln spitzbübisch. Ich wusste, dass Neal das größte Interesse an meinem Fund hegen würde. Er ist ein Entdecker und geht selbst gerne auf Erkundungstour durch die Stadt.
    »Womit willst du sie aufbekommen?« Jetzt meldet sich die stille Candice zu Wort. Ihre Stimme ist immer leise. Ich mag sie.
    »Ich habe hinreichend Werkzeug. Ich helfe beim Wiederaufbau, schon vergessen?« Neals Tonfall ist keineswegs unfreundlich, trotzdem wendet Candice den Blick ab und starrt auf ihre Füße.
    Suzie klatscht in die Hände. »Wie aufregend! Los, Neal, hol etwas, womit wir die Dose aufmachen können.« Sie wirft ihre langen blonden Haare in den Nacken, ihre Wangen sind vor Eifer gerötet.
    »Ich halte das für keine gute Idee«, sagt Carl. »Außerdem gehört sie Holly. Sie sollte entscheiden, was damit passiert.«
    Mein Blick irrt zwischen Carl und Neal hin und her. Carl wirkt ruhig und gelassen, fast schon desinteressiert. Neal hängt an meinen Lippen, als wartete er nur auf mein Einverständnis.
    »Jemand hat mich downtown durch die Stadt verfolgt. Ich nehme an, weil ich die Konserve gefunden habe. Es muss irgendetwas darin sein, wofür es sich lohnt, jemanden zu verfolgen.«
    Carl lacht, verschluckt sich und hustet dann. »Menschen sind seltsam, wenn es um Besitztümer geht. Wer auch immer dir wegen der Büchse auf den Fersen war, muss entweder dumm oder sehr verzweifelt gewesen sein.«
    »Oder sehr hungrig«, sagt Neal. »Immerhin wissen wir, dass man in der alten Welt Lebensmittel darin aufbewahrt hat.«
    »Tatsächlich?« Suzies Augen leuchten, als hätte sie nie zuvor davon gehört. Sie liest keine Bücher wie ich.
    »Ich bezweifle, dass der Inhalt nach fast einhundert Jahren noch genießbar ist«, sagt Carl. »Allerdings muss ich zugeben, auch ein wenig neugierig zu sein.«
    Wieder ruhen alle Augen auf mir. »Macht sie auf, ich habe sie nicht hergebracht, um mir das Blech von außen anzusehen.«
    Neal schien nur auf das Stichwort gewartet zu haben. Er springt auf und hastet aus dem Gemeinschaftsraum. Ich höre seine Schritte auf dem Flur. Wir anderen verharren in Schweigen, bis er mit einem Hammer und einem Schraubendreher zurückkommt. Neal besitzt eigenes Werkzeug. Die Obersten haben es ihm zur Verfügung gestellt, weil er beim Wiederaufbau der Stadt hilft. Er ist sehr geschickt, wofür ich ihn bewundere.
    Gebannt starre ich auf die Büchse, während Neal sie mit dem Werkzeug auf dem Küchentisch bearbeitet. Ich frage mich, womit die Leute früher ihre Konservendosen geöffnet haben. Sicherlich nicht mit einem Hammer, denn es erscheint mir umständlich.
    Neal schlägt nur ein einziges Mal zu, als ein Zischen ertönt und ein Riss entlang der Naht auf der Oberseite der Konserve entsteht.
    »Das Blech ist schon total brüchig«, sagt er. Mit dem Meißel hebelt er den Deckel auf, was ihm keine große Mühe bereitet.
    Ein säuerlicher Geruch steigt mir in die Nase und ich kann dem Drang nicht widerstehen, mich abzuwenden und mir die Hand vor das Gesicht zu halten. Den anderen ergeht es nicht anders.
    »Das ist widerlich!«, stößt Suzie hervor.
    Neal legt sein Werkzeug beiseite und beäugt kritisch den Inhalt der Konserve, sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Die Farbe seiner Wagen wechselt von rosig zu gräulich blass.
    »Holly, das ist echt eklig. Schaff das Ding bloß fort von hier. Du hast es angeschleppt, also entsorge es auch. Essen kann man das ganz sicher nicht mehr. Ich wünsche dir jedenfalls guten Appetit, wenn du es dennoch versuchen möchtest.«
    Carls Gesicht ist das einzige, auf dem ich ein verschmitztes Lächeln erkennen kann. »Eigentlich sollte kein Sauerstoff an den Inhalt einer Konserve gelangen, aber durch die zahlreichen Dellen ist sie vielleicht nicht mehr dicht gewesen. Holly, nimm sie und bring sie raus, das Teil stinkt uns die ganze Wohnung voll.«
    Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. Ich muss einen Würgereiz unterdrücken, als ich die geöffnete Dose mit beiden Händen greife und anhebe, wobei mir ein erneuter Schwall ihres säuerlichen Geruchs in die Nase steigt.
    Darauf bedacht, nichts zu verschütten, trage ich sie zurück zur Wohnungstür. Hoffentlich falle ich nicht die Treppe herunter. Insgeheim wünsche ich mir, ich hätte die Dose meinem Verfolger überlassen. Dann hätte der sich mit dem Zeug herumschlagen müssen. Jetzt riecht
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