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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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Konservendose vor mir auf den Boden, beuge mich nach vorn und stütze mich mit den Händen auf den Knien ab. Ich zwinge mich, langsamer zu atmen. Freude und Erleichterung durchfluten mich. Es kommt selten vor, dass ich etwas aus der alten Welt zwischen den Trümmerteilen finde. Zum ersten Mal ist mir eine verschlossene und unversehrte Konservendose in die Hände gefallen. Aus Büchern weiß ich, dass darin früher Lebensmittel aufbewahrt wurden. Das war allerdings noch vor der völligen Zerstörung meiner Stadt durch Erdbeben und deren Entvölkerung durch Krankheitserreger. Ich kenne meine Umgebung nur so, wie sie heute ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einmal anders gewesen sein könnte. Es leben keine Zeitzeugen der Wende mehr. Ich weiß nicht genau, wie lange es her ist, seit die Obersten wieder Ordnung in die Stadt gebracht haben. Sie schweigen darüber.
    Ich nehme die Konserve wieder auf und setze meinen Weg fort. Bevor es Abend wird, möchte ich zurück bei meiner Kommune sein. Sie gewährt mir Schutz. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit, nachts auf andere Menschen zu treffen eher gering, aber leider gehört auch Kriminalität zu meinem Alltag.
    Es gibt eine Polizei. Die Obersten schicken einige Auserwählte regelmäßig auf Streife in unsere Straßen, aber es sind viel zu wenige. Die Menschen sind schlecht und böse, sie stehlen und neiden sich ihre wenigen Habseligkeiten. Ich nehme es als unabdingbare Tatsache hin.
    Ich durchquere ein Viertel, in dem die Fassaden der Häuser bunter sind als im Rest der Stadt. Sie sind leuchtend rot oder gelb. Die Farben sind verblasst, aber immer noch wunderschön. An manchen Wänden prangen Schilder, einige sind voll davon. Sie ragen zwischen den Fenstern mit den zersplitterten Scheiben in die engen Gassen hinein. Mein bester Freund Neal hat mir einmal erzählt, es seien einst beleuchtete Werbeschilder gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, wofür jemand werben sollte und welcher Sinn dahinter steht. In meinen Büchern habe ich nichts dazu finden können.
    Lesen habe ich schon im Kindesalter gelernt, weil mein Mentor Carl es mir beigebracht hat, aber dennoch erschließen sich mir die wundersamen Zeichen auf den Schildern nicht. Sie sehen fremd aus, exotisch, eher wie Bilder als wie Schriftzeichen. Ich frage mich manchmal, ob die Menschen der alten Welt anders geschrieben oder gesprochen haben als wir heute. Das einzige Wort, das ich in gelben Buchstaben auf einer roten Wand lesen kann, ergibt für mich auch keinen Sinn.
Chinatown
. Ob meine Stadt einst so geheißen hat? Aber wer oder was ist China? Neal meint, früher hätte es für die Stadt einen Namen gegeben. Ich sehe keinen Sinn darin. Es gibt nur diese eine Stadt, weshalb ihr eine Bezeichnung geben? Menschen tragen Namen, ja, weil man sie rufen muss. Aber doch keine Orte! Andererseits ... Ich habe auch schon Schilder aus der alten Welt gesehen, die den Straßen einen Namen gegeben haben. Skurril!
    Ich gehe gern durch dieses Viertel, auch wenn es nicht der direkte Weg zurück zu meiner Kommune ist. Ich wohne weiter westlich, ungefähr in der Mitte der Stadt, wo die Häuserfassaden nicht so bunt sind, dafür aber mit Stuck verziert. Über den Fenstern gibt es Rundbögen, kein Haus hat mehr als drei oder vier Stockwerke. Ich mag das. Im Süden ist die Zerstörung viel größer. Viele der sehr hohen Häuser sind dem Erdbeben zum Opfer gefallen, einige Straßen kann man überhaupt nicht mehr benutzen, weil sie mit Schutt bedeckt sind. Manche Gebäude haben die Katastrophe überlebt. Sie sind so hoch, dass sie den Himmel berühren. Ich kann das Dach von unten sicht sehen, selbst, wenn ich den Kopf in den Nacken lege. Diese Häuser machen mir Angst. Ich weiß nicht, wozu die Menschen sie einst gebaut haben, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Stadt einmal so viele Einwohner gezählt haben soll. Solche Menschenmassen kann es überhaupt nicht geben. Die Riesenbauten schauen mich jedes Mal aus hässlichen leeren Fensterlöchern an, wenn ich durch die Häuserschluchten jogge. Ich meide den Süden der Stadt, aber leider führt mein Weg zu meinem Lieblingsplatz beim Wasser genau durch die Giganten hindurch. Neal lacht mich oft deswegen aus. Er hat keine Angst vor Häusern. Ich glaube, er hat vor überhaupt nichts Angst.
    Ich biege in die Straße ein, in der mein Wohnhaus liegt. Auf meinem Weg bin ich niemandem begegnet, auch nicht dem Mann, der mich wegen der Konservendose verfolgt hat. Es gibt viel zu viele
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