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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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unsere Wohnung nach ihrem bräunlichen Inhalt, in dem Stücke herumschwimmen. Die Konsistenz ist breiig. Es sieht ganz und gar nicht nach etwas Essbarem aus. Ob es je appetitlicher gerochen hat? Ich kann mir kaum vorstellen, was die Pampe einmal gewesen sein sollte. Sie sieht nicht im geringsten aus wie die Nahrungsmittel, die ich kenne.
    Vorsichtig öffne ich mit einer Hand die Haustür, mit der anderen balanciere ich die Büchse, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Zumindest habe ich es schon bis auf den Bürgersteig geschafft. Sollte ich jetzt fallen, ist zumindest nicht die Wohnung kontaminiert.
    Ich bringe die Büchse auf die andere Straßenseite. Das Gebäude dort steht leer, wie fast alle. Mit Schwung werfe ich die Dose durch das zersplitterte Fenster im Erdgeschoss. Ich höre, wie sie in einiger Entfernung scheppernd auf den Boden fällt. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie der Brei sich nun auf dem nackten Betonboden ausbreitet.
    Ich wende mich ab und laufe zurück zur Haustür. Sie ist hinter mir wieder ins Schloss gefallen, weshalb ich erneut meinen Daumen auf den Scanner drücken muss.
    Als ich wieder oben bin, sind meine Mitbewohner bereits in ein neues Gespräch vertieft. Ich sehe auf die Uhr an der Wand über dem Tisch. Halb sechs. Um sieben müssen wir beim Abendessen sein. Die Obersten haben kein Erbarmen mit denjenigen, die zu spät in den Park kommen, um ihre Ration einzunehmen. Ich bin meist zu früh dort.
    Neal unterhält sich mit Carl, aber gelegentlich hebt er den Blick und sieht mir in die Augen. Dann lächelt er. Ich bin sehr froh, dass er mein bester Freund ist.
     
    ***

    Noch fast eine Stunde, ehe wir uns auf den Weg machen werden, um unsere Nahrungsrationen einzunehmen. Ich sitze auf meinem Bett, auf meinem Schoß ein aufgeschlagenes Buch. Ich habe es bereits mehrfach gelesen, wie alle meine Bücher. Ich wünschte, es würde mehr Bücher geben. Carl meinte, ich besäße bereits alle. Ich finde es schade, dass niemand ein neues erfindet. Seit ich lesen kann, vergrabe ich mich in den Seiten. Ich kenne fast jeden Satz auswendig, die Seiten sind ganz abgegriffen.
    Ich besitze neun Bücher. Mehr gibt es nicht. Ich bin stolz darauf, weil viele Einwohner der Stadt gar nicht lesen können. Ich weiß alles, was es zu wissen gibt. Ich habe die meisten Bücher von den Obersten erhalten. Das erste hat Carl mir geschenkt, die anderen musste ich mir selbst beschaffen. Vor zwei Jahren habe ich meine Angst überwunden und einen der Staatsmänner angesprochen. Ich habe darum gebeten, mehr lernen zu dürfen und mich vor seiner Reaktion gefürchtet. Doch der uniformierte Gesetzeshüter hat mich nur teilnahmslos angesehen, mich nach meiner Individuennummer gefragt und nichts mehr gesagt. Am nächsten Tag hat er mir beim Abendessen gleich einen ganzen Arm voll neuer Bücher gegeben. Ich war unendlich stolz. Ich träume davon, eines Tages in die Riege der Obersten berufen zu werden. Ich erhoffe mir einen Vorteil gegenüber den anderen Jugendlichen, weil ich so viel weiß. Mit sechzehn Jahren ist es möglich, in die Welt der Obersten jenseits der großen Brücken gerufen zu werden. Ich bin gerade sechszehn geworden und hoffe beinahe jeden Tag, dass endlich die jährlichen Untersuchungen anstehen, nach denen immer eine Handvoll junger Leute rekrutiert werden.
    Ich schlage das Buch zu und stelle es zurück auf das Regal zu den anderen. Ich besitze nicht viele Möbel, mein Bücherregal ist mein ganzer Stolz. Auch deshalb, weil Neal es für mich gebaut hat. Er ist sehr geschickt. Vielleicht bitte ich ihn eines Tages doch darum, das Treppengeländer zu reparieren.
    Ich sehe an mir hinab. Mein gelber einteiliger Anzug ist an den Schienbeinen schmutzig, weil ich heute Nachmittag zwischen dem Schutt an der Lower East Side herumgekrochen bin. Sollte ich mir einen frischen anziehen, bevor wir zum Essen aufbrechen? Ich öffne meinen Kleiderschrank, der neben meinem Bett und dem Regal das einzige weitere Möbelstück ist. Darin hängen noch drei gelbe Anzüge auf einem Bügel, daneben liegt in einem Fach weiße Unterwäsche. Drei Anzüge. Heute ist Dienstag. Erst am Samstag kann ich meine schmutzige Wäsche zur Brücke bringen, weil dort jemand stehen wird, der sie einsammelt und frische für die kommende Woche verteilt. Meine Anzüge sind im Nacken mit meiner Individuennummer gekennzeichnet, weil die Menschen alle unterschiedlich groß und dick sind. Einmal im Jahr werden wird vermessen, dann bekommen wir neue
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