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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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mir dennoch viel zu breit. Die Obersten verfügen über Autos, aber ich sehe nicht oft welche. Es können doch niemals so viele gewesen sein, dass sie alle fünf Spuren benötigt haben, oder doch? Für gewöhnlich verlassen die Obersten mit ihren wenigen Fahrzeugen ihre Welt jenseits der Brücken nur, um uns mit Nahrung zu versorgen, um die medizinischen Stationen zu besetzen oder um die bewaffnete Polizei auf Streife zu schicken. Sie haben große schwarze Autos mit getönten Scheiben. Ich bin nie in einem mitgefahren, wünsche es mir jedoch.
    Ich rutsche auf einem Haufen Glasscherben aus. Ich rudere mit den Armen und falle zur Seite, aber Neal fängt meinen Sturz ab. Ich hebe den Blick, er lächelt mich an. Schnell löse ich mich von ihm. Während der kurzen Dauer unserer Berührung habe ich den Duft seiner Haut aufgesogen. Er riecht nach der Seife, die wir im Badehaus von den Obersten bekommen, aber auch nach Staub. Und noch ein anderer Duft haftet seiner Haut an, etwas, was ich mit Worten nicht beschreiben kann.
    »Hoppla, pass auf, dass du nicht fällst«, sagt er und grinst. Ich nicke nur, denn es ist mir peinlich, den Halt verloren zu haben. Ich bin sehr sportlich, ich habe weder Angst vor großer Höhe noch vor wackeligem Boden. Ich bin schon oft in den ausgehöhlten Ruinen der alten Häuser herumgeklettert. Von vielen steht nur noch die Stahlkonstruktion. Nun denkt Neal, ich sei zu dämlich, einen hüfthohen Schrotthaufen zu erklimmen. Ich mag es nicht, wenn andere bemerken, dass ich Fehler mache, deshalb erwidere ich nichts und gehe weiter, als sei nichts passiert.
    »Möchtest du mir nicht endlich sagen, wohin wir gehen?« Es erscheint mir eine gute Frage, um vom Thema abzulenken.
    »Wir sind fast da. Dort hinten vor der Brücke zweigt eine Straße nach links ab. Dort befindet sich, was ich dir zeigen möchte.«
    Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ich hoffe sehr für dich, dass es sich lohnt. Der Weg hierher war ganz schön weit.«
    Neal stößt mir mit dem Ellenbogen sanft in die Seite und zwinkert. »Glaub mir, das hast du sicher noch nicht gesehen.«
    Ich bezweifle seine Worte, sage aber nichts. Ich glaube, die ganze Stadt bereits zu kennen. Und selbst, wenn ich eine neue Straße oder auch einen ganzen Häuserblock entdecke, erwartet mich dennoch nie etwas Neues. Überall ist es dasselbe Bild: Ruinen und aufgeplatzte Straßen.
    Wir biegen in die Straße ein, die Neal mir zuvor genannt hat. Sie führt in das Viertel mit den bunten Fassaden.
Chinatown
. Neal greift meine Hand, sie ist warm und trocken. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Er ist mein bester Freund, und mein einziger. Ich bin froh, dass ich ihn habe. Seine Berührungen fühlen sich stets vertraut und ehrlich an.
    Er zieht mich hinter sich her in eine Einfahrt hinein. Dahinter liegt ein Hof. Er ist genauso trostlos wie alles in der Stadt. Graue Mauern umsäumen ihn an drei Seiten, der Boden weist tiefe Risse und Löcher auf. Auch hier finde ich die auf den Asphalt gemalten weißen Rechtecke wieder, die ich schon von dem Platz neben meinem Wohnhaus kenne. Im hinteren Teil des Hofes ist eine mannshohe Öffnung, aber es befindet sich keine verschließbare Tür davor. Neal führt mich geradewegs darauf zu. Es sieht aus wie ein Hintereingang, doch das Gebäude wirkt nicht bewohnt. Die Häuser, in denen Kommunen oder Familien leben, sind alle mit einem Scanner gesichert, der die Fingerabdrücke der Bewohner mit einer Datenbank vergleicht. Keiner kann ein fremdes Haus betreten, das er nicht bewohnt, es sei denn, er wird dazu eingeladen.
    Bevor wir durch die Tür ins Gebäudeinnere eintauchen, sehe ich an der Wand entlang nach oben. Es gibt nur drei Stockwerke und ein flaches Dach. In den Fensterrahmen ragen noch die Reste von Glasscheiben wie spitze Zähne daraus hervor. Ein Bild, das sich einem an jeder Ecke bietet. Ich frage mich, was Neal mir zeigen möchte.
    Im Inneren des Hauses ist es kühl. Es gibt nur einen einzigen Raum, aber der ist riesig. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Fensterfront, durch das staubblinde Glas fällt aschfahles Licht. Meine Augen benötigen einige Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Der Boden unter meinen Füßen ist gefliest, fast wie der im Badehaus. Der Raum ist nicht leer so wie die meisten in der Stadt. Vor uns stehen nebeneinander drei seltsame blockförmige, abgeteilte hüfthohe Parzellen. An diese Parzellen schließt sich ein Tisch an, der mit einem schwarzen gummiartigen Band bespannt
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