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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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noch einmal stehen. Ich drehe mich zu ihm um. Er hockt auf dem Boden und zieht etwas unter einem Regal hervor, einen Gegenstand, so lang wie meine Hand. Er hat eine metallische Farbe, glänzt aber nicht. Ich erkenne einen Griff und eine Klinge. Ein Messer! Aber es sieht nicht aus wie die Messer, die ich vom Abendessen kenne. Dieses ist spitz. Ich schnappe erneut nach Luft.
    Neal richtet sich auf und dreht den Gegenstand in der Hand. »Ein Messer.«
    Nun, das hatte ich selbst auch schon erkannt. »Wie kommt es hierher? Wir dürfen so etwas nicht besitzen.«
    Ich erkenne ein Funkeln in Neals blauen Augen, das mir nicht gefällt. Er sieht aus, als heckte er einen Streich aus. Ein seltsames Lächeln umspielt seinen Mund.
    »Ich denke, es ist eine Waffe aus der alten Welt. Weshalb sonst sollte jemand ein Messer anspitzen, wenn er damit nicht verletzen will?«
    Ein Schreck fährt mir in die Glieder. Waffen dürfen nur die obersten Staatsmänner tragen. »Das kann nicht sein. Glaubst du, die Regierung hat den Zivilisten früher erlaubt, so etwas zu besitzen? Nie und nimmer.«
    Ich sehe mich über die Schulter hinweg um, weil ich Angst habe, jemand könnte uns gefolgt sein, auch wenn das Quatsch ist. Die Stadt ist riesig. Ich fühle mich wie eine Verbrecherin und möchte schnellstmöglich nach Hause.
    »Vielleicht ist das der Grund, weshalb die alte Welt nicht mehr existiert.« Neals Stirn legt sich in Falten, als müsste er nachdenken.
    »Jeder weiß, dass die Stadt so kaputt ist, weil die Erde gebebt hat und weil die Menschen krank geworden sind. Sie können nicht so dumm gewesen sein, ihren Einwohnern das Tragen von Waffen erlaubt zu haben. Das glaube ich nicht. Und jetzt leg bitte das Ding weg und lass uns gehen.«
    In mir breitet sich Unruhe aus. Ich möchte nicht bei etwas Verbotenem erwischt zu werden. Ich werfe Neal einen flehenden Blick zu. Er seufzt und legt das Messer in eines der Regale. »Dann lass uns gehen.«
    »Wir dürfen niemandem erzählen, dass wir einen Minimarket gefunden haben, abgemacht?«
    »Abgemacht.« Neal legt wieder seinen Arm um meine Schulter und gemeinsam treten wir auf die Straße zurück.
    Den gesamtem Rückweg über schweigen wir, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Mir läuft ein kalter Schauder über den Rücken, wenn ich zu lange darüber nachdenke, wie die Menschen früher gelebt haben. Ich weiß nicht genau, wie lange die Katastrophe zurückliegt, die unsere Stadt verwüstet hat. Ich bin aber froh, dass niemand mehr lebt, der sich daran erinnert. Es scheint ein schrecklicher Ort gewesen zu sein, in denen sich viele Menschen einen Raum geteilt haben und man von haarigen Monstern umgeben war.
    Als wir in den neunzehnten Bezirk einbiegen, begegnet uns auf der Straße eine Frau, die die Hand eines etwa vierjährigen kleinen Jungen hält. Ich habe sie schon einmal gesehen, sie wohnt mit ihrer Familie zwei Blocks südlich von uns. Ich kenne ihren Namen nicht. Ihre Haare sind rot, weshalb ich sie überall wiedererkennen würde. Sie ist der einzige Mensch mit roten Haaren, den ich je gesehen habe. Die Haare des Kindes sind eher braun. Ich bin dem Vater des Jungen nie begegnet, immer ist die Frau mit dem Jungen allein unterwegs. Als wir auf gleicher Höhe aneinander vorbeigehen, treffen sich für einen kurzen Moment unsere Blicke. In ihrem Gesicht lese ich Misstrauen. Rasch geht sie weiter und zieht den Jungen hinter sich her. Ein wenig tut sie mir leid. Sie ist noch jung, nur ein paar Jahre älter als ich. Vielleicht haben die Obersten den Vater des Kindes zu sich gerufen. Das ist eine große Ehre, aber die Frau ist sicherlich oft einsam. Ich versuche, nicht mehr an sie zu denken, aber es will mir nicht gelingen. Sie erinnert mich an meine eigene Vergangenheit. Ich kenne meine Eltern nicht. Sie wurden beide in die Reihen der Obersten rekrutiert, als ich noch ein Baby war. Carl hat mich aufgezogen. Manchmal wünsche ich mir, meine Eltern wären noch bei mir, doch dann habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so egoistisch bin. Ihnen geht es heute besser als mir, ich sollte glücklich darüber sein. Ich sehne mich selbst danach, einst in die andere Welt jenseits der Brücken zu gehen, es ist mein größter Wunsch. Dann würde ich meine Eltern wiedersehen. Am besten wäre es, wenn Neal mitkommen könnte. Ich möchte ihn nicht allein zurücklassen, denn er hat auch keine Eltern mehr. Sie sind bei einem Raubüberfall auf offener Straße umgekommen. Da war Neal erst zehn Jahre alt. Obwohl
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