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Glutroter Mond

Glutroter Mond

Titel: Glutroter Mond
Autoren: Narcia Kensing
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Straßen. Es ist unmöglich, jemanden wiederzufinden, mit dem man weder Zeit noch Treffpunkt vereinbart hat, und wer sich einmal verliert, wird sich so schnell nicht wiederfinden. Oft habe ich mich schon über diesen Umstand geärgert, heute bin ich darüber sehr erleichtert.
    Das Haus, in dem ich wohne, ist nicht eines von denen, das zwischen anderen Häusern eingequetscht ist. Eine Seite ist sogar frei, weil eine über zwanzig Yards breite Lücke zwischen unserem und dem Nachbarhaus klafft. Diese Lücke ist nicht durch die Katastrophe entstanden, unsere Vorfahren müssen sie bewusst angelegt haben. Der Platz zwischen den Häusern ist gepflastert, weiße Linien unterteilen ihn in einzelne, etwa drei Yards lange und zwei Yards breite Rechtecke, deren Sinn sich mir nicht erschließt.
    Mein Wohnhaus ist komplett grau. Die große leere Fläche an der Seite weist keine Fenster auf, dafür einen riesigen verblassten Schriftzug.
Hollister
steht dort, darüber das Bild eines stilisierten Vogels. Neal sagt, auch das sei einst Werbung gewesen. Wir wissen nicht wofür.
    Ich presse meinen Daumen gegen die kleine Scheibe des Scanners neben der großen dunklen Eingangstür aus Holz. Sie riecht seltsam muffig. Das hat sie schon getan, seit ich denken kann. Nach ein paar Sekunden ertönt das vertraute Summen, und ich kann die Tür nach innen aufdrücken.
    Im Flur dahinter ist es immer kühl, auch im Sommer. Eine dicke Staubschicht bedeckt die grau geflieste Treppe. Das Geländer ist im letzten Jahr weggebrochen. Carl hat immer versprochen, es zu reparieren, aber er ist nicht mehr der Jüngste. Ich habe ihn nicht mehr daran erinnert. Natürlich könnte Neal sich darum kümmern, aber er ist ein Heißsporn und wird schnell wütend. Ich möchte mich mit ihm nicht wegen eines Treppengeländers streiten.
    Ich gehe hinauf in den ersten Stock. Schon von weitem höre ich die Stimmen meiner Mitbewohner. Suzies glockenreines Lachen, Neals tiefes Brummen und die gedämpfte Stimme von Carl. Als ich die Tür zu unserem Gemeinschaftsraum öffne, verstummen ihre Gespräche. Sie sitzen alle am Tisch. Carl sitzt vor Kopf, rechts neben ihm Neal und auf der anderen Seite Suzie und Candice. Es kommt selten vor, dass wir alle zusammen sind.
    »Holly, wo bist du gewesen?« Neal schiebt seinen Stuhl geräuschvoll zurück und kommt auf mich zu. Er legt seine Arme um mich und drückt mich an sich. Mir ist das ein wenig unangenehm vor den anderen. Er ist fast einen ganzen Kopf größer als ich. Sanft schiebe ich ihn von mir weg. Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich zwischen Suzie und Candice an den Tisch. Die Konserve stelle ich vor mir ab. Auch Neal lässt sich auf seinen Platz zurückfallen, seine Augen sehen mich fragend an.
    »Ich war im Südviertel«, sage ich.
    Sofort greift Suzie nach der Konserve und nimmt sie in die Hand. »Was ist das?«
    »Ich dachte, du bist nicht gerne dort«, sagt Carl und übergeht Suzies Frage. Seine Stirn legt sich in Falten. Sein ganzes Gesicht ist faltig, aber ich finde dennoch, dass er gut aussieht.
    »Meine Füße haben mich dorthin getragen. Unter dem Schutt habe ich die Konservendose gefunden.«
    »Woher weißt du, wie man es nennt?« Suzie stellt die Dose auf den Tisch und lehnt sich im Stuhl zurück, als wolle sie möglichst großen Abstand zwischen sich und die Büchse bringen.
    »Aus Büchern.«
    Ich wollte nicht herausfordernd klingen, aber dennoch stößt Neal die Luft zischend durch seine Zähne aus und schüttelt leicht den Kopf. »Fräulein Klugscheißer.«
    Er sagt es nicht unfreundlich, eher belustigt, aber dennoch merke ich, wie mir Blut in die Wangen schießt.
    Ich finde nicht, dass ich ein
Klugscheißer
bin. Ich kann lesen, was auf den Großteil der Bevölkerung nicht zutrifft. Aber innerhalb meiner Kommune können es alle. Carl hat es uns beigebracht. Ich weiß nicht, weshalb sie mich immer damit aufziehen, dass ich viel weiß. Ich lese nun einmal gerne.
    Carl zieht die Büchse zu sich heran. Er hält sie sich nah vor die Augen. Seine Sehkraft hat nachgelassen in den letzten Jahren. Wir haben ihm oft gesagt, er solle in der medizinischen Station nach einer neuen Brille fragen, aber Carl ist zu stolz. Er mag die Obersten nicht besonders, was ich nicht verstehen kann. Sie sichern unser Überleben.
    »Haltbar bis April 2088. Das ist 95 Jahre her.« Mit einem Schnauben stellt Carl die Dose zurück auf die Tischplatte.
    »Sie sieht aber noch unversehrt aus, bis auf die Beulen.« Jetzt nimmt Neal
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