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Glashaus

Titel: Glashaus
Autoren: Charles Stross
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1
    das duell
     
     
     
    EIN MIT VIER ARMEN AUSGESTATTETES MENSCHENWESEN, weiblich und dunkelhäutig, geht quer durch den Club auf mich zu. Das einzige Kleidungsstück der Frau besteht aus einem Gürtel, an dem menschliche Schädel hängen. Wie ein dunkler Kranz umrahmt ihr Haar das offene, neugierige Gesicht. Offensichtlich ist sie an mir interessiert.
    »Du bist neu hier, stimmt’s?«, fragt sie und bleibt vor meinem Tisch stehen.
    Ich starre sie an. Abgesehen von den fein ausgebildeten zusätzlichen Schultergelenken ist der Körper, den sie sich zugelegt hat, ziemlich ortho und entspricht dem traditionellen menschlichen Bauplan. Die Schädel sind Schrumpfköpfe und hängen an einer mit Rosen verzierten Kette aus Stacheldraht.
    »Ja, ich bin ein Neuling«, erwidere ich. Der Ring an meinem linken Zeigefinger löst ein leichtes Kribbeln aus und erinnert mich auf diese Weise an meinen Bewährungsstatus. »Ich muss dich darauf hinweisen, dass ich mich derzeit einer Rehabilitationsmaßnahme unterziehe, die eine Neudefinition meiner Persönlichkeit einschließt. Ich - beziehungsweise Menschen in meinem Zustand - neigen hin und wieder zur Gewalttätigkeit. Mach dir keine Sorgen, das ist nur eine Warnung, zu der ich verpflichtet bin. Ich hab keineswegs vor, dir etwas anzutun. - Wieso fragst du?«
    Sie zuckt die Achseln. Es ist eine komplizierte Bewegung, die ihren Körper beben lässt und mit einem Wackeln ihrer Hüften endet. »Weil ich dich hier noch nie gesehen habe, und ich bin in den letzten zwanzig, dreißig Diurn fast jeden Abend hier gewesen. Man kann sich durch Hilfstätigkeiten nämlich zusätzliche Punkte bei der Rehabilitation verdienen. Mach dir keinen Kopf um deinen Ring. Diese kleinen Bewährungshelfer müssen wir hier fast alle tragen. Auch ich war verpflichtet, die Leute vor mir zu warnen. Ist noch gar nicht so lange her.«
    Ich ringe mir ein Lächeln ab. Eine Mitpatientin also? Im Programm schon weiter fortgeschritten als ich? »Möchtest du was trinken?« Ich deute auf den Stuhl neben mir. »Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?«
    »Ich bin Kay.« Sie zieht sich den Stuhl heran und nimmt Platz. Während sie die Getränkekarte mustert, wirft sie die dunkle Haarmähne über die Schultern und verstaut die Schrumpfköpfe mit zwei Händen unter dem Tisch. »Hm, ich glaube, ich nehme als kleinen Aufputscher einen doppelten Mokka-Mix auf Eis mit wenig Coca.« Als sie mich wieder ansieht, blickt sie mir direkt in die Augen. »Die Klinik sorgt dafür, dass die Neuankömmlinge stets von einem ehrenamtlichen Helfer begrüßt werden. In dieser Schicht bin ich damit dran. Verrätst du mir, wie du heißt? Und wo du herkommst?«
    »Wenn du möchtest.« Mein Ring vibriert und erinnert mich daran, dass ich jetzt lächeln sollte. »Ich heiße Robin. Und du hast recht, ich komme gerade aus dem Reha-Tank. Ehrlich gesagt, bin ich erst seit einer Meg draußen.« (Seit etwas mehr als zehn Erdentagen, seit einer Million Sekunden.) »Eigentlich stamme ich …«, ich schalte für einige Millisekunden auf QuickTime-Modus um, da ich nach einer Geschichte suche, die ich ihr präsentieren kann, und lande bei einer Version, die der Wahrheit recht nahe kommt, »… aus einer Region nicht weit von hier. Allerdings wurde gerade erst ein Eingriff in meine Erinnerungen vorgenommen. Irgendwas hat mich innerlich immer mehr ausgelaugt, also musste ich was dagegen unternehmen, was es auch gewesen sein mag.«
    Kay lächelt. Sie hat hohe Wangenknochen, und zwischen ihren perfekten Lippen schimmern perlweiße Zähne. Beide Gesichtshälften sind völlig symmetrisch. Drei Milliarden Jahre evolutionärer Lernprozesse und die artenspezifischen Gene zur Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes haben ein Gesicht hervorgebracht, dessen Seiten wie gespiegelt wirken. Wo kommt denn dieser Gedanke her?, frage ich mich verärgert. Ist schon hart, wenn man nicht weiß, ob man ureigene Gedanken denkt oder gerade auf postoperative Identitätskrücken zurückgreift.
    »Ich hab erst seit Kurzem menschliche Gestalt«, vertraut Kay mir an. »Bin gerade erst von Zemlya hierher gezogen. Wegen des Eingriffs«, fügt sie nach einer kurzen Pause leise hinzu.
    Ich spiele mit den Quasten herum, die von meinem Schwertknauf herunterbaumeln. Irgendwie fallen sie nicht richtig, und das nervt mich regelrecht. »Also hast du bei den Eisdämonen gelebt?«, frage ich.
    »Stimmt nicht ganz: Ich war selbst ein Eisdämon.«
    Bei diesen Worten horche ich auf. Soweit ich
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