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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei
Autoren: Julianne Lee
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Prolog
    Mit weithin vernehmlicher, befehlsgewohnter Stimme verlas der englische Captain den Zwangsräumungsbefehl, ohne auch nur ein einziges Mal ins Stocken zu geraten. Vom dichten Geäst eines Baumes aus beobachtete Sinann Eire das Geschehen; in ihrem Gesicht spiegelte sich dasselbe ungläubige Entsetzen wider wie in den Mienen jener Familie, deren Besitztümer soeben auf einen hölzernen Karren verladen wurden.
    Nachdem der Engländer seinen Monolog beendet hatte, faltete er das Dokument wieder zusammen und schob es in seine Rocktasche, dann straffte er sich und lenkte seinen Fuchswallach an die andere Seite des Karrens. Er saß mit der Sicherheit eines Mannes zu Pferde, der den größten Teil seiner Zeit im Sattel verbringt. Weitere mit Musketen und Schwertern bewaffnete Rotröcke eilten geschäftig hin und her. Es war ein nebliger, unfreundlicher Tag, nur gelegentlich riss das trübe Grau auf und gab ein Stück blauen Himmel frei; dunkle Regenwolken hingen über den schroffen Granitfelsen, die das kleine Tal einschlossen.
    Ein schwarzweißer Hütehund tobte in sicherer Entfernung aufgeregt kläffend im Hof herum, während der junge Alasdair, der Vater der enteigneten Familie, die englischen Bastarde mit üblen gälischen Verwünschungen bedachte. Seine Frau Sarah versuchte vergeblich, ihn zum Schweigen zu bringen. Sie hatte ihre drei kleinen Kinder um sich geschart; das jüngste thronte auf ihrer Hüfte und klammerte sich Schutz suchend an die Mutter. Obwohl sie sich größte Mühe gab, ihren Mann von den Soldaten wegzuzerren, schüttelte dieser sie nur unwillig ab. Sarahs Stimme klang schrill vor Verzweiflung, auch Sinann las nackte Mordlust in Alasdairs Augen und wusste, dass es seiner Frau kaum gelingen würde, ihn zu beruhigen. Nur zu gerne wäre die Fee zu ihnen hinübergeflogen, um ihnen beizustehen, doch sie wusste, dass sie sich auf keinen Fall sehen lassen durfte, denn sie würde die Lage der enteigneten Familie nur noch verschlimmern; es wurden ohnehin schon überall im Land regelrechte Hexenjagden veranstaltet. Wütend hüpfte sie auf ihrem Ast auf und ab. Keiner der unten Stehenden schien zu bemerken, dass die Blätter leise raschelten, obwohl sich kein Lüftchen regte.
    Ein Dragoner trat in gebückter Haltung durch die Tür des niedrigen strohgedeckten Torfhäuschens ins Freie. Er hielt ein längliches Bündel in den Armen, bei dessen Anblick Alasdair nach Luft schnappte und einen unterdrückten Fluch ausstieß. Sein Gesicht lief tiefrot an, und er machte Anstalten, sich auf den Dragoner zu stürzen, doch Sarah packte ihn beschwörend am Arm und hielt ihn zurück, obgleich sie seinen Zorn teilte. Der englische Soldat hatte das alte Breitschwert entdeckt, einen Zweihänder, der sich seit fünf Generationen im Familienbesitz befand und stets vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben wurde. Voll ohnmächtiger Wut folgte Alasdairs Blick dem in einen schmutzigen, zerschlissenen Kilt eingewickelten Schwert, dessen Heft mit uralten keltischen Symbolen verziert war. Der Dragoner präsentierte seinem Vorgesetzten seine Beute. »Seht mal, was ich gefunden habe. Er hatte es in einer Ecke vergraben.«
    Der Captain grunzte nur. »Ab in den Karren damit.« Er blickte sich herausfordernd um, sichtlich zufrieden mit dem Fund. »Ein Schwert weniger, mit dem unsere Männer niedergemetzelt werden können.« Es klang, als habe er ganz allein das Leben unzähliger Engländer gerettet.
    Der Dragoner warf die Waffe zu den anderen beschlagnahmten Besitztümern der Familie: hölzernen Schalen, Leinentüchern, Kleidungsstücken, Eisentöpfen, Säcken voll Weizen und Hafer, Wolle, Flachs, einem Pflug, Zaumzeug, Sicheln, Stühlen, einem Holztisch, Bettzeug und der kleinen, in Englisch verfassten Familienbibel.
    Nur Sinann bemerkte den Ausdruck hoffnungsloser Ver-zweiflung, der beim Anblick der Bibel über das Gesicht des Schotten huschte, und sie begriff, dass er entschlossen war, lieber zu sterben als zuzulassen, dass ihm und den Seinen alles genommen wurde. Sie stieß einen durchdringenden Jammerlaut aus, der jedoch unbemerkt verhallte, da sie von gewöhnlichen Sterblichen weder gesehen noch gehört werden konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, dass vor nicht allzu langer Zeit auch ihr geliebter Donnchadh von ebenjenem Sassunach, der jetzt eine ganze Familie von ihrem Land verjagte, grausam ermordet worden war.
    In diesem Moment machte sich Alasdair von seiner Frau los, stürmte auf den Captain
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