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Glashaus

Titel: Glashaus
Autoren: Charles Stross
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weiß, ist mir noch nie ein echtes lebendes Alien begegnet, auch nicht ein ehemaliges Alien. »Bist du«, wie soll ich’s ausdrücken?, »bist du schon so geboren oder später für eine Weile dorthin ausgewandert?«
    »Das sind gleich zwei Fragen.« Sie streckt einen Finger hoch. »Beantwortest du dafür auch meine?«
    »Abgemacht.« Auch ohne Souffleur denke ich daran, bekräftigend zu nicken, was mein Ring mit einem Aufflackern von Wärme quittiert. Es ist eine primitive Methode der Konditionierung: Verhalten, das auf fortschreitende Genesung hinweist, wird belohnt; Verhalten hingegen, das das postoperative Trauma verstärkt, wird bestraft. Mir gefällt das zwar überhaupt nicht, doch für den Heilungsprozess ist diese Konditionierung angeblich wesentlich.
    »Ich bin unmittelbar nach dem vorletzten Eingriff in meine Erinnerungen nach Zemlya ausgewandert.« Irgendetwas an Kays Mimik bringt mich auf den Gedanken, dass sie mir ausweicht. Was möchte sie mir vorenthalten? Ein berufliches Projekt, das fehlgeschlagen ist? Persönliche Feindschaften? »Ich wollte diese Dämonengesellschaft von innen kennenlernen.« Als ihr Cocktail auf dem Tisch auftaucht, nippt sie probeweise daran. »Diese Wesen sind echt seltsam.« Einen Augenblick lang wirkt sie nachdenklich. »Doch nachdem ich das Leben einer Generation verfolgt hatte, wurde ich … traurig.« Sie nimmt noch einen Schluck. »Eigentlich hab ich mit ihnen ja zusammengelebt, um sie zu studieren, weißt du. Aber wenn du für Gigasekunden ununterbrochen mit Leuten zusammenlebst, wirst du zwangsläufig in deren Leben mit hineingezogen. Es sei denn, du lässt dich in einen Posthumanen verwandeln und dir ein Upgrade verpassen … Nun ja, ich hab dort Freundschaften geschlossen und musste zusehen, wie meine Freunde alterten und starben, und irgendwann hab ich das nicht mehr verkraftet. Deshalb musste ich zurückkommen. Um die … die innere Belastung loszuwerden. Den Kummer.«
    Gigasekunden? Eine Gigasekunde bedeutet mehr als dreißig Erdenjahre. Eine lange Zeit, wenn man sie unter Aliens verbringt. Sie mustert mich eingehend. »Der letzte Eingriff bei dir muss ja sehr präzise gewesen sein«, sage ich langsam. »Ich weiß nämlich gar nicht mehr viel über mein früheres Leben.«
    »Immerhin weißt du, dass du ein Mensch gewesen bist.«
    »Ja.« Eindeutig ja. Erinnerungsfetzen sind mir erhalten geblieben: das Aufblitzen von Schwertern in einer schummrigen Gasse der remilitarisierten Zone. Fontänen von Blut. »Ich war Akademiker. Mitglied der Professorenschaft.« Eine Phalanx aus Assembler-Toren, geschützt durch Firewalls, aufgereiht hinter dem beängstigenden Panzer einer Zollkontrollstelle zwischen zwei Gemeinwesen. Schreiende, um Verschonung flehende Zivilisten, die man zu einem dunklen Eingang drängt … »Hab Geschichte gelehrt.« So viel ist wahr, ist früher wahr gewesen. »All das kommt mir jetzt langweilig und sehr weit weg vor.« Das kurze Aufflackern einer Energiewaffe, danach Stille. »Im Lauf der Zeit hatte ich mich irgendwie festgefahren und brauchte was Neues, nehme ich an.«
    Was fast, aber nicht gänzlich gelogen ist. Diese Entscheidung habe ich nämlich keineswegs freiwillig getroffen. Jemand machte mir ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Ich wusste zu viel. Und das bedeutete, sich entweder auf eine Ausmerzung der Erinnerungen einzulassen oder den nächsten Tod als endgültig in Kauf zu nehmen. Zumindest stand es so in dem auf echtem Papier verfassten Brief, der mich beim Erwachen im Reha-Zentrum auf dem Nachttisch erwartete. Kurz zuvor hatten die winzigen Roboter der Klinikchirurgen - der Chirurgen, die gleichzeitig als Beichtväter amtieren - das Wasser der Lethe direkt in mein Gehirn geleitet.
    Ich grinse und sichere die Halbwahrheiten mit einer regelrechten Lüge ab. »Deshalb hab ich mich einer radikalen Rekonstruktion unterzogen. Und jetzt weiß ich nicht mal mehr, warum.«
    »Und fühlst dich wie ein neuer Mensch.« Sie lächelt schwach.
    »Ja.« Ich mustere ihr unteres Händepaar, denn es ist nicht zu übersehen, dass sie damit herumfuchtelt. »Obwohl ich an diesem konservativen Körperbau festgehalten habe.« Tatsächlich bin ich mit einem sehr konservativen Körper aus der Erneuerung hervorgegangen: Ich bin ein drahtiger Mann mittlerer Größe mit dunklen Augen, auf dessen Schädel sich gerade dunkle Haarstoppeln abzuzeichnen beginnen, und ähnle von Kopf bis Fuß einem Eurasier aus der Epoche vor dem Raumzeitalter - einschließlich
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