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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
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Im Wald
    Wir gingen durch den Wald, Jana und ich. Fast Hand in Hand. Unsere Arme berührten sich beim Laufen manchmal, und wir trugen beide Sommerkleider mit kurzen Ärmeln. Meines war weinrot mit hellen grünen Längsstreifen. Ich hätte gerne Jeans und T-Shirt angezogen, aber Jana hatte gesagt: »Das geht nicht. Nicht da.« Jetzt ging sie neben mir, und ihre Haare, die ihr sanft über die Schultern fielen, waren auf eine kindliche Art blond und leuchteten im gedämpften Licht des Waldes. Wir hatten sie zusammen gewaschen, bei mir zu Hause, und ihnen Glanz gegeben mit einem Ei.
    Ich hatte dabei in der Badewanne gehockt wie ein Kind, und Jana stand vor mir, nur in einem Schlüpfer. Ich sah ihre Beine und die sich kräuselnde Scham links und rechts des weißen Stoffes. Über mir hörte ich das Knacken der Schale, und dann ließ sie mir das Ei auf den Kopf klatschen. Es zerlief, so wie eine Spinne krabbelt, und mich schauderte. »Die werden schon was zu gucken kriegen«, sagte sie, und ich legte meinen Kopf auf die Knie und ließ sie machen. Gab mich in ihre Hand.
    Jana hatte mit Julius geschlafen. »Einmal nur, der ist echt verdreht.« – »Und warum willst du den nicht?«, hatte ich gefragt, und Jana hatte gesagt: »Mich kriegt keiner.« Dann lachte sie und verteilte das Ei weiter auf meinem Kopf. »Der ist was für dich. Wirst schon sehen.« Ich liebte das, wenn Jana das sagte, genau wie ich es hasste, wenn meine Mutter das sagte mit fast genau denselben Worten: »Wär’ der nicht was für dich?«, über irgendeinen, so als wollte sie mich loswerden. Bei Jana wusste ich, dass sie mir Julius in Gedanken zur Seite stellte, und sie blieb auf der anderen Seite stehen. Unverrückbar.
    Der Waldboden unter unseren Füßen war weich und verschluckte unsere Schritte. Ab und zu kam ein Auto von hinten oder ein Moped, und manchmal hupten sie und schrien im Vorbeifahren. Oder wir sollten mitfahren und zierten uns. »Das wird ein Fest«, sagte Jana und sah ihnen nach. Das hatte ich auch zu meiner erstaunten Mutter gesagt auf die Frage, wohin wir denn gehen würden und wo wir übernachteten. »Ein Sommerfest bei Freunden.« Keine Fete oder Party, kein Geburtstag. Ein Sommerfest. Die Tasche mit dem Schlafsack schnitt mir hart in die Schulter und zerknitterte den Stoff meines Kleides. Ich wollte wenigstens in normalen Klamotten bei Julius und seiner Mutter ankommen. »Wir können uns doch dann immer noch umziehen.« – »Kommt nicht in Frage. Du ziehst dein Kleid an. Das wird ein Auftritt. Die ganze Künstlerboheme aus Berlin wird da sein. Wir werden uns nicht verstecken vor den Bouletten«, sagte Jana, als wüsste sie was, und ein bisschen wusste sie ja tatsächlich.
    Von Neubrandenburg waren wir Richtung Anklam gefahren und schon am ersten Halt ausgestiegen. »Dieses Haus liegt im absoluten Nichts«, hatte Jana gesagt. »Das nächste Dorf ist ewig weit weg, und direkt vor der Tür ist ein See. Man fällt praktisch hinein.«
    Zwei Kilometer waren es vom Bahnhof aus zu laufen. Und dann war man erst in Giebenow. Kleine schiefe Häuser, die sich an einer Straße im Spalier gegenüberstanden. Hohläugig und reglos. Das ganze Dorf war menschenleer. Ein Hund bellte, als wir über die Kopfsteinpflasterstraße liefen, und ein Trecker dröhnte vorbei, der Fahrer winkte uns vergnügt über die Schulter zu, so als würde er uns kennen.
    »Das ist also sein Schulweg jeden Morgen«, sagte ich, und Jana sah mich an. Sie trug die Sonnenbrille ihrer Großmutter, deren Gläser fast lila waren, und einen winzigen schwarzen Hut mit einem Netz vor dem Gesicht. »Na ja. Arbeitsweg. Der macht ja Beruf mit Abitur im BAZ in der Oststadt. Wasserwirtschaft. Der muss früher raus als wir, meine Süße. Aber nur noch ein paar Wochen. Dann hat er sein Abi in der Tasche.«
    Wir gingen seit fast einem Jahr auf die EOS in Neubrandenburg, und in wenigen Wochen waren Sommerferien. Jana hatte am ersten Tag im Klassenzimmer gesessen, rückwärts auf dem Stuhl mit der Lehne nach vorn. Sie sah mich durch den Raum an und grinste. So als würden wir uns kennen. Dabei kannte ich niemanden. Ich stand an der Wand allein. Zehn Jahre war ich auf dieselbe Schule gegangen, und nun noch zwei Jahre Abitur auf der Penne, wie alle die EOS nannten. Jana grinste so lange, bis ich wie aufgezogen auf sie zuging und vor ihr stehen blieb. Sie sah zu mir hoch und sagte: »Was haben wir beide hier verloren?«
    Wir gingen an einem Gerstenfeld entlang auf den Wald zu, in dem das Haus
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