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Glashaus

Titel: Glashaus
Autoren: Charles Stross
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Qualen ausgelöste Turbulenzen mit sich. Dieser Zustand treibt mich dazu, in meinem Apartment ruhelos auf und ab zu tigern. Oder mich ins weiß gekachelte Badezimmer zu stellen, mir die Arme aufzuritzen und neugierig zuzusehen, wie hellrotes Blut hervorquillt. Sex hat eine derart zwanghafte Bedeutung angenommen, wie ich sie fast schon vergessen hatte. Der Sexualtrieb ist ebenso wie der Drang zu Gewalttätigkeiten bemerkenswert schwer zu unterdrücken, wenn man leer und ausgelaugt aufwacht und sich nicht mehr daran erinnern kann, wer man früher war. Aber noch mehr vergeht einem der Spaß an der Freude, wenn man schon zum zweiten oder dritten Mal einen Verjüngungszyklus mitmacht.
    »Hör mal, sieh dich nicht um, aber du solltest wohl besser wissen, dass jemand drauf und dran ist …«
    Ehe ich den Satz zu Ende bringen kann, beugt sich Blondie über Kays Schulter und spuckt mir ins Gesicht. »Ich verlange Satisfaktion!« Ihre Stimme klingt wie ein Diamantbohrer.
    »Warum?«, frage ich mit starrer Miene, während ich mir die Wange abwische und mein Herz vor Anspannung heftig klopft. Ich kann spüren, wie sich Wut in mir aufbaut, zwinge mich aber dazu, sie zu beherrschen.
    »Reicht schon, dass du lebst.«
    Manche Fälle haben nach dem Eingriff einen ganz bestimmten Blick. Während sie sich in einem psychopathischen, dissoziativen Zustand befinden, sind sie immer noch damit beschäftigt, die losen Fäden ihrer Persönlichkeit und ihrer Erinnerungen zu einer neuen Identität zusammenzustricken. Dieser unsinnige Zorn auf die ganze Welt, dieser Hass auf die eigene Existenz - der oftmals dem früheren ganzheitlichen Selbst gilt, weil es sie nackt und ohne Erinnerungen der Welt ausgesetzt hat - erzeugt eine ganz eigene Dynamik. Der wilde Hass, der aus Blondies dunklen Augen sprüht, und die perfekte Muskulatur des optimierten Phänotyps verbinden sich so miteinander, dass sie ihr eine beängstigende, fast urzeitlich primitive Präsenz verleihen. Dennoch hat sie noch so viel Selbstbeherrschung, mich ausdrücklich herauszufordern, ehe sie angreift.
    Die menschenscheue Kay, deren Genesungsprozess viel weiter vorangeschritten ist als der von Blondie und mir, bleibt geduckt auf ihrem Platz sitzen, als Blondie mich wütend anstarrt. Und das ärgert mich jetzt wirklich. Blondie hat kein Recht, Unbeteiligte einzuschüchtern. Möglich, dass ich mich doch besser im Griff habe, als ich es mir selbst zutraue.
    »In diesem Fall« - langsam stehe ich auf, ohne den Blickkontakt mit Blondie auch nur eine Sekunde zu unterbrechen - »wär’s wohl angesagt, dass wir es in der remilitarisierten Zone untereinander austragen, wie? Nach den grundlegenden Todesregeln?«
    »Ja«, zischt sie.
    Ich sehe Kay an. »Hat Spaß gemacht, mit dir zu reden. Bestellst du mir noch was zu trinken? Bin gleich wieder da.« Im Rücken spüre ich Kays Blick, während ich Blondie zu dem Tor gleich neben der Bar folge, das in die RMZ führt.
    Auf der Schwelle bleibt Blondie stehen. »Nach dir«, sagt sie.
    »Umgekehrt. Der Herausforderer geht als Erster durch.«
    Nachdem sie mir einen weiteren finsteren, eindeutig zornigen Blick zugeworfen hat, tritt sie mit großen Schritten ins T-Tor und verschwindet mit einem Flimmern. Ich wische mir die rechte Hand am Lederschurz ab, greife nach dem Heft meines Schwerts, ziehe es heraus und springe durch das Wurmloch, das von hier aus direkt zur RMZ führt.
    Die Etikette eines Duells schreibt vor, dass der Herausforderer mindestens zehn Schritte Abstand zum Tor hält, doch Blondie ist in mieser Stimmung, und es ist nur gut, dass ich auf Verteidigung eingestellt und bereit zum Parieren bin, denn als ich ankomme, wartet sie schon auf mich, bereit, mir ihr Schwert auf der Stelle in den Unterleib zu rammen.
    Sie ist schnell und gemein und zeigt nicht das mindeste Interesse, sich an die Regeln zu halten. Allerdings macht mir das nichts aus, denn dadurch kann ich meiner eigenen existenziellen Wut freien Lauf lassen und sie auf ein Ziel ausrichten. Seit meiner Operation verzehrt mich die Wut, der Hass auf die Kriegsverbrecher, die mich gewaltsam in diese Lage gebracht haben; aber auch der Hass auf mein früheres Ich, die Person, die sich auf die Löschung nahezu aller Erinnerungen eingelassen hat (ich weiß nicht mal mehr, ob diese Person weiblich oder männlich gewesen ist oder wie groß sie war). Jetzt bündelt sich dieser Hass und richtet sich auf ein einziges Ziel. Blondie lässt ihre Schwertklinge kreisen. Auch ihr konzentriertes
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