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Glashaus

Titel: Glashaus
Autoren: Charles Stross
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behindert. Hier und jetzt ist Kay alles, was ich brauche.

    Danach laufe ich nach Hause, durch Straßen, die mit weichem, natürlichem Gras überzogen und mit grünen Marmorplatten überdacht sind. Das Gestein stammt aus der Lithosphäre eines Planeten, der Hunderte von Teraklicks entfernt liegt. Ich bin mit meinen Gedanken allein, und die Netzverbindung schweigt, zeigt nur eine Wegbeschreibung an. Der Straßenplan verspricht mir einen Spaziergang von fünf Kilometern, bei dem mir voraussichtlich kein Mensch begegnen wird. Zwar bin ich mit einem Schwert bewaffnet, doch ich habe nicht im Mindesten Lust auf eine weitere Herausforderung. Ich brauche Zeit zum Nachdenken, denn zu Hause erwartet mich mein Therapeut, und ich muss erst in meinem eigenen Kopf Klarheit darüber gewinnen, zu welcher Person ich mich derzeit entwickle, ehe ich mich mit ihm unterhalte.
    Hier bin ich also, gesund und munter - wer immer ich auch sein mag. Ich bin Robin, stimmt’s? Ich wate im Sumpf vager Erinnerungen; es sind die Spuren, die nach dem Eingriff in mein Langzeitgedächtnis übrig geblieben sind. Die Gehirnwäsche hat meine früheren Leben mit einem Nebel überzogen, sodass nur noch verschwommene Eindrücke erhalten sind. Kurz nach dem Aufwachen musste ich mich nach meinem eigenen Lebensalter erkundigen. Wie sich herausstellte, bin ich fast sieben Milliarden Sekunden alt, obwohl meine emotionale Stabilität der inneren Verfassung eines postpubertären Mannes entspricht, der nur ein Zehntel so alt ist. Früher einmal waren die Menschen schon nach zwei Gigasekunden Greise. Wie kann ich so alt sein und mich dabei so jung und unerfahren fühlen?
    In meinem Leben klaffen riesige, unerklärliche Risse. Bestimmt habe ich auch früher schon Sex gehabt, doch ich erinnere mich nicht daran. Eindeutig habe ich mich auch früher schon duelliert - aufgrund meiner Reflexe und unbewussten Fertigkeiten habe ich kurzen Prozess mit Gwyn gemacht -, aber ich erinnere mich weder an das Training noch an das Töten. Mal abgesehen von diesen seltsamen Gedankenblitzen, aber das können genauso gut Erinnerungen an ältere Unterhaltungsprogramme sein. Im Brief meines früheren Selbst stand, ich sei Akademiker gewesen - ein Militärhistoriker mit den Spezialgebieten Religiöser Wahn , Schlafkulte und Entwicklung mittelalterlicher Phänomene . Falls das stimmt, erinnere ich mich jedenfalls an nichts von alldem. Vielleicht ist es tief in mir vergraben und taucht wieder auf, wenn ich es benötige. Kann aber auch sein, dass es für immer verschollen bleibt. Ich weiß ja nicht, bis zu welchem Grad mein früheres Selbst eine Ausmerzung der Erinnerungen verlangt hat, aber es muss einer kompletten Löschung des Langzeitgedächtnisses gefährlich nahe gekommen sein.
    Was ist denn überhaupt noch da?
    In der Wandelhalle meines Cartesischen Theaters sind überall winzige Scherben der Erinnerung verteilt, die nur darauf warten, dass ich darauf ausrutsche oder mich an ihnen schneide. Derzeit habe ich die traditionelle Gestalt eines Menschen, eines erwachsenen Mannes - bin das überlieferte Ergebnis einer natürlichen Auslese. Dieser Körper kommt mir durchaus angemessen vor, allerdings muss es meiner Meinung nach eine Zeit gegeben haben, in der ich viel fremdartiger war. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir vor, dass ich vielleicht ein Panzerwagen gewesen bin. (Entweder das, oder ich habe mir zu viele Simulationen von Kriegsabenteuern reingezogen, und sie sind trotz der Operation in meinem Schädel hängen geblieben, obwohl wichtige Erinnerungen verschwunden sind.) Dieses Gefühl, unerbittlich Geschütze auszufahren, dieses Gefühl eiskalt beherrschter Gewalt … Ja, vielleicht bin ich wirklich ein Panzer gewesen. Und falls ja, muss ich wohl irgendwann einen kritischen Netzzugang gesichert haben. Der Verkehr zwischen Gemeinwesen wird genau wie der innerhalb eines Gemeinwesens über T-Tore abgewickelt, über zielgerichtete Wurmlöcher, die weit voneinander entfernte Orte punktgenau verbinden. T-Tore haben zwei Endpunkte und arbeiten ohne Filter - sie lassen alles von einem Endpunkt zum anderen durch. Was innerhalb eines Gemeinwesens kein Problem darstellt, sich aber zu einem Riesenproblem auswachsen kann, wenn man eine Netzwerkgrenze gegen Angriffe anderer Gemeinwesen verteidigen muss. Deshalb die Firewall. Als Teil des Grenzschutzes musste ich sicherstellen, dass alle Einreisenden sofort zu einem A-Tor befördert wurden - wo die Assembler sie zerlegten, heraufluden und
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