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Emma und der Rebell

Emma und der Rebell

Titel: Emma und der Rebell
Autoren: Linda Lael Miller
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Prolog

    Beaver Crossing,
    Nebraska 10. Dezember 1865
    Emma Chalmers stand zwischen den anderen
Waisenkindern in der beißenden Kälte auf dem Bahnsteig und wappnete sich gegen
die Aussicht, von Lily getrennt zu werden. Die Kleine, die mit sechs ein Jahr
jünger war als Emma, klammerte sich an die Röcke ihrer Schwester, die braunen
Augen ganz groß vor Angst. Caroline, ihre älteste Schwester, war schon bei
einem Halt in Lincoln adoptiert worden, und Lily war damit alles, was Emma
noch geblieben war, außer der kleinen Fotografie von ihnen allen, die in ihrer
Kitteltasche steckte.
    Die hagere
kleine Frau, die ihnen gegenüberstand, musterte Emma von Kopf bis Fuß, dann
sagte sie zu dem Zugführer: »Ich nehme die kleine Rothaarige hier.«
    Vor Schreck
brachte Emma kein Wort heraus, ihr Arm schloß sich schützend um Lilys schmale
Schultern. »Nehmen Sie meine Schwester auch«, flehte sie. »Bitte, Madam – ich
kann Lily nicht allein weiterfahren lassen.«
    Die Frau
schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Ich kann froh sein, wenn ich ein Mädchen
bekomme, das mir bei der Hausarbeit hilft«, erwiderte sie. »Mr. Carver würde
mir ein blaues Auge schlagen, wenn ich gleich zwei nach Hause brächte.«
    Daraufhin
hob der Zugführer Lily hoch und trug sie – obwohl sie wie wild strampelte und
schrie – von Emma fort und in den Zug. Die Trennung war so brutal, daß Emma
sich für einen Moment nicht rühren konnte. Lily war doch noch so klein! Wer
würde sich nun um sie kümmern? Wer würde sie vor den frechen Waisenjungen
schützen, die sich ein Vergnügen daraus machten, Lily zu ärgern?
    Emma rührte
sich nicht; sie stand wie angewurzelt auf dem Bahnsteig. Tränen der
Verzweiflung in den blauen Augen. Sie wollte protestieren, wollte schreien, so
laut sie konnte, aber sie ahnte, daß diese Mrs. Carver sie schlagen würde,
falls sie es tat.
    »Komm
jetzt! Mr. Carver ist im Saloon, und er wird wütend, wenn man ihn warten läßt«,
sagte die fremde Frau, die ein verwaschenes Kattunkleid trug, einen
zerdrückten Hut und einen Umhang, der aussah, als stammte er vom Trödler. »Ich
würde dir nicht raten, Ben zu verärgern. Er wird sehr schnell zornig.«
    Ein
schriller Pfiff, und aus dem Schornstein der Lokomotive kam zischend Dampf
heraus. Emma drehte sich um und versuchte, Lily an einem der Fenster des
Passagierwagens zu sehen, aber sie konnte sie nirgendwo entdecken.
    Mit
hängenden Schultern folgte sie Mrs. Carver über die schneebedeckten, rutschigen
Stufen, die vom Bahnsteig hinunterführten. Die eisige Kälte drang durch ihr
dünnes Kleid und ihren Mantel, aber das spürte Emma nicht; sie fühlte nichts
als den herzzerreißenden Schmerz, der ihr in seiner Intensität fast den Atem
raubte.
    »Haben Sie
schon wieder ein Mädchen adoptiert, Molly?«
    Emma
schaute an Mrs. Carver vorbei und bemerkte eine elegant gekleidete Frau in
einem grünen Samtumhang und einem federbesetzten Hut.
    »Und wenn
es so wäre, Chloe Reese?« entgegnete Mrs. Carver schnippisch und schob sich
vor Emma, als könnte sie das Mädchen so vor den Blicken der anderen verbergen.
    Doch die
schöne, elegante Frau griff an Mrs. Carver vorbei und strich Emma über das
Haar, in dem sich die dicken Schneeflocken verfangen hatten. »So ein hübsches
kleines Mädchen.«
    »Sie sieht
jedenfalls kräftig genug aus, um zu arbeiten«, versetzte Molly mürrisch.
    Wieder
ertönte ein schriller Pfiff, und der Ton schnitt wie ein Messer in Emmas Herz.
Sie drehte sich noch einmal um, und diesmal sah sie Lilys blasses Gesicht an
einem der Fenster. Das kleine Mädchen preßte die Nase gegen die schmutzige
Scheibe und hielt verzweifelt Ausschau nach Emma.
    »Die arme
kleine Alice, die du dir beim letztenmal geholt hast, hast du anscheinend schon
verbraucht«, sagte Miss Reese in vorwurfsvollem Ton, während sie ihre
Handtasche öffnete. Molly Carver erwiderte nichts darauf, aber Emma sah, daß
sie beide Hände zu Fäusten ballte. »Nimm sie nicht mit nach Hause, Molly«, fuhr
Chloe etwas sanfter fort. »Du weißt doch, was Benjamin ihr antun wird!«
    Emma hatte
das Gefühl, daß eine kalte Hand über ihren Rücken strich. Schaudernd dachte sie
an den Soldaten, der bei ihrer Mutter wohnte und wie er sie immer auf dem Schoß
hatte halten wollen, wenn keiner in der Nähe gewesen war. Emma spürte, daß
etwas Wichtiges vorging zwischen diesen beiden fremden Frauen, die so
verschieden voneinander waren.
    Emma riß
erstaunt die Augen auf, als sie Miss Reese einen Geldschein
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