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Im Land der tausend Sonnen

Titel: Im Land der tausend Sonnen
Autoren: Patricia Shaw
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1. Kapitel
     
     Hamburg, November 1874
            Mörder!«
            Bedrohlich hallte es durch die Nacht. Ein Kirchenmann drückte sich zitternd vor Kälte in das Holzhäuschen des Nachtwächters und hörte das dumpfe Knallen von Stiefeln auf nassen Bohlen, als einige Männer vorüberliefen. Ängstlich riefen sie in den Nebel hinein, während sie sich der Menschenansammlung näherten, die in der dunklen Gasse wogte. Es schien, als fürchteten sie, eine Erdspalte könnte sich vor ihnen auftun, eine Erdspalte, in die sie blind hineintappen würden, wenn sie aufhörten zu rufen und sich vorzutasten, denn niemand machte sich die Mühe, ihnen zu antworten. Sollten sie doch kommen und sich selbst überzeugen. Hier unten in der grauen Düsternis waren keine lauten Stimmen zu hören, nur Flüstern, als sollte der Tote nicht aufgeweckt oder gestört werden. Die Männer, ihre Mützen tief in die gefurchten Stirnen gezogen, fanden sich zu ständig wechselnden Gruppen zusammen, scharrten mit den Füßen, spien aus, warteten, rauchten Pfeife und bliesen unter nervösen, misstrauisch flackernden Blicken warmen Atem auf kalte Hände.
            Wieder und wieder wurden die gleichen Fragen gestellt, wenn Neuankömmlinge sich unter die Gruppen mischten und andere still weitergingen, weil es nichts mehr zu sehen gab.
            »Eine Leiche! Sie haben eine Leiche gefunden! Ermordet! Hier unten in der Gasse. Im alten Kornspeicher.«
            »Was für eine Leiche? Wie ist das passiert? Wer ist … wer war er?«
            »Umgelegt, grausam erschlagen. Sie haben ihm die Kehle aufgeschlitzt.«
            »Nein! Mein Kumpel hat ihn gesehen. Ihm wurde die Kehle nicht durchgeschnitten. Die Schläge über den Schädel haben gereicht. Sie haben ihm das ganze Gesicht eingeschlagen.«
            »Der arme Kerl wusste wohl gar nicht, wie ihm geschah. Wohin willst du?«
            »Ich will ihn auch sehen.«
            »Da darf jetzt keiner hin. Der Inspektor sagt, wir müssen Abstand halten.«
            »Wer war der Ermordete?«
            »Ich weiß nicht. Er ist nicht von hier, ein Seemann vielleicht.«
            »Nein. Ich hab gehört, er sei Schauspieler.«
            »Wer sagt das? Ein Schauspieler? Woher hast du das denn? Ein Schauspieler! Und was kommt als Nächstes?«
            »Stimmt aber. Ich hab es von den Wachmännern gehört.«
            »Haben sie die Schurken gefasst?«
            »Wohl nicht. In dieser Gegend hier gibt es ja mehr Strauchdiebe als ehrliche Leute.«
            »Wer hat die Leiche gefunden?«
            »Ein paar Huren auf der Suche nach einem lauschigen Plätzchen. Sie haben die Wache und den Inspektor geholt, und dann kam gleich ein Pfarrer.«
            »So schnell?«
            »Klar, solang es was zu verdienen gibt, sind sie immer schnell. Der Pfarrer hat den Toten gekannt und ihn identifiziert.«
            »Das muss ein Schock für ihn gewesen sein.«
            »Doch nicht für einen Pfarrer. Die sehen ständig irgendwelche Toten. Fast genauso oft wie Soldaten.«
            »Und wenn sie in den Krieg ziehen würden, bekämen sie mehr als alle anderen zu sehen.«
            »Ach, halt den Mund, Bert. Geh nach Hause.«
            »Das ist mir einer, dieser Bert! Wieso treibt sich überhaupt ein Pfarrer um diese Zeit auf den Docks herum?«
            »Er wollte auf die Clovis , die heute Nacht ausläuft. Er ist da unten im Wachhäuschen. Frag ihn doch selbst.«
            Vom anderen Ende der Gasse her hörten sie das Klappern eines leichten Karrens, vermutlich der Karren des Leichenbestatters, und die Aufregung verflog.
            Die letzte der breiten Gestalten tauchte im Nebel unter, als Inspektor Backhaus mit seinen Wachmännern aus der Gasse heraustrat, froh, es hinter sich zu haben. Er würde gegen neun zu Hause sein, rechtzeitig zum warmen Abendessen mit der Familie und bevor das Feuer im Herd ausging. Später würde kein Holz mehr da sein. Die Holzkärrner hatten sich geweigert zu liefern, solange er die Rechnung nicht bezahlt hatte.
            Er schnaubte ärgerlich, woraufhin seine beiden Begleiter forscher ausschritten, eifrig bemüht, ihm zu gefallen, damit er nicht ihnen die Schuld gab, dass sich in seinem Bezirk schon wieder ein Verbrechen ereignet hatte. Aber wie hätten sie es verhindern können? Selbst der
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