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Zwilling verzweifelt gesucht

Zwilling verzweifelt gesucht

Titel: Zwilling verzweifelt gesucht
Autoren: Bettina Obrecht
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Wir sind eine ungerade Familie. Aber das habe ich lange Zeit für normal gehalten. Genau genommen bis zu meinem neunten Geburtstag. Ich erinnere mich genau, dass mir an diesem Tag zum ersten Mal klar geworden ist, dass mit unserer Familie etwas nicht stimmen kann.
    Bis dahin fand ich es ganz normal, dass an meinem Geburtstag kein anderer in der Familie Geburtstag hat, dass ich die Kerzen auf der Torte ganz allein mit meinem bisschen Puste auspusten muss und mir keiner dabei hilft. Dass ich die Einzige bin, die an diesem Tag eine alberne Krone auf dem Kopf trägt – eine aus Goldpapier, die sowieso überhaupt nichts wert ist (meine älteren Brüder haben mal bei e-bay nachgesehen).
    Alle meine Geschwister haben jeweils zu zweit Geburtstag. Immer.
    Ich bin so etwas wie eine einzelne Socke. Eine Hose mit nur einem Bein. Ein Knopf ohne Knopfloch. Ein Kopfhörer mit nur einem Ohrstöpsel.
    Meine sechs Geschwister dagegen sind vollständig. Sie alle wurden als Zwillinge geboren, als eineiige Zwillinge. Das heißt, jeden von ihnen gibt es doppelt: meine vier jüngeren Geschwister ebenso wie meine beiden älteren Brüder Fabian und Finn.
    Fabian und Finn sind zwölfeinhalb und werden mit jedem Monat nerviger. Ihr Zimmer haben sie durch und durch mit Werwölfen, Schwerter schwingenden Muskelhelden und ähnlichen Dingen dekoriert, außerdem mit LED-Lämpchen in allen Farben.
    Jule und Jana, meine kleinen Schwestern, kommen nach den Sommerferien in die Schule und freuen sich darauf, daran kann man sehen, dass sie noch ziemlich dumm sind.
    Robin und Rasmus sind vor vier Wochen erst ein Jahr alt geworden. Sie überlegen gerade, ob sie laufen lernen sollen. Bis jetzt lassen sie sich im Kinderwagen herumschieben oder tragen, das ist natürlich viel bequemer.
    Dann sind da noch unsere beiden Hunde, Mops und Moppel. Die beiden sind nicht nur Zwillinge, sondern sogar Fünflinge, sehen allerdings vollkommen unterschiedlich aus. Mops ist weiß mit braunen Flecken, langbeinig, mit drahtigem Fell. Moppel dagegen ist schwarz-weiß gescheckt , hat kurze Beine und weiches Fell wie eine Katze. Außerdem ist Moppels Unterkiefer ein bisschen länger als sein Oberkiefer, sodass seine unteren Zähne etwas hervorstehen. Er ist kein besonders schöner Hund, aber wir lieben ihn natürlich trotzdem genauso wie seinen Bruder.
    Von meinen älteren Brüdern erbe ich seit jeher alles in doppelter Ausführung: Jacken, Hosen, Nachttischlampen, Gummistiefel, Kinderfahrräder … Selbst wenn meine Eltern etwas Neues für mich kaufen, was nicht so häufig vorkommt, besorgen sie es oft gleich doppelt – denn von mir sollen ja wiederum die Kleinen erben. Meine Eltern kaufen nicht gerne ein, und wenn, dann nur Sonderangebote. Ich könnte also ruhig auch doppelt vorhanden sein, es ist alles da.
    Alisia, meine beste Freundin, fand uns schon immer merkwürdig, aber das hat nichts zu bedeuten. Alisia hat selbst keine Geschwister, deswegen findet sie alles merkwürdig, was mit Brüdern und Schwestern zu tun hat. Dass meine Geschwister ausgerechnet lauter Zwillinge sind, ist da eher Nebensache.
    Also, an meinem neunten Geburtstag jedenfalls habe ich es einfach nicht geschafft, diese läppischen neun Kerzen mit meiner einsamen Puste auszupusten. Als ich die unbeeindruckt flackernden Kerzen sah und die hämischen Gesichter meiner Brüder, wurde es mir plötzlich klar: Jemand fehlt.
    Mein Zwilling nämlich. Mir fehlt eindeutig meine Zwillingsschwester. Mir fehlt diejenige, die mir beim Kerzenauspusten helfen könnte. In diesem Moment habe ich es tief in mir gespürt: Es muss sie geben.
    Gleich darauf hat sich herausgestellt, dass meine älteren Brüder vier Kerzen aus dem Scherzartikelversand auf meinen Kuchen geschmuggelt hatten – welche von denen, die man gar nicht auspusten kann – auch mit meiner Zwillingsschwester hätte ich das nicht geschafft. Aber nun war das Gefühl des Verlusts einmal da und ging nicht mehr weg. Ich weiß jetzt, dass ich eine Zwillingsschwester haben muss und dass diese aus mir unerklärlichen Gründen nicht bei mir lebt.
    Alisia hat das sofort verstanden. Zumal sie weiß, dass auch meine Großeltern Zwillinge sind, jedenfalls meine Großmutter mütterlicherseits und mein Großvater väterlicherseits. Erst letzte Woche habe ich Oma auf einem Foto mal wieder mit Tante Klara verwechselt. Nach so vielen Jahren sehen die beiden einander noch so ähnlich. Vor mir dagegen liegt noch ein ganzes einsames Leben ohne meine Zwillingsschwester. Nun
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