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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Autoren: Thea Dorn
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Verehrte Frau Dorn ,
     
    ich verstehe den Titel Ihres Buches nicht. Wollen Sie andeuten, dass es in Deutschland zu harmonisch zuginge? Das können Sie ja wohl nicht meinen. Bei uns vergeht doch kein Tag ohne Zank und Streit. Vor allem in der Politik nicht. Von echter Harmonie ist dieses Land sehr, sehr weit entfernt. Ich würde mir allerdings von Herzen wünschen, dass es harmonischer zuginge, deshalb verstehe ich nicht, warum Ihr Buchtitel so klingt, als ob Harmonie etwas Schlechtes wäre. Vielleicht können Sie mir das erklären.
     
     
    Mit freundlichen Grüßen, Erika Mustermann
     
     
     
    Verehrte Frau Mustermann,
     
     
    haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief! Ich stimme Ihnen zu: In diesem Land wird gezankt, was das Zeug hält. Allerdings bin ich überzeugt, dass die allgemeine Verzanktheit – die unserer politischen Klasse im Besonderen – nichts anderes ist als ein Ausdruck der allgemeinen Verzagtheit. Dass in diesem Land ernsthaft gestritten würde, kann ich nicht erkennen.
    Was aber ist ernsthafter Streit, werden Sie fragen. Inwiefern lässt er sich vom Zank unterscheiden? Und sind nicht beide das Gegenteil von Harmonie?
    Zank widmen sich Menschen, deren Auseinandersetzung keinen anderen Inhalt kennt als das persönliche Interesse, den jeweiligen Eigennutz: Der eine will mehr Sozialleistungen erhalten, der andere weniger Steuern zahlen. Letztlich folgen solche Zwistigkeiten der Logik des Sandkastens. Das eine Kind plärrt, weil es nicht erträgt, dass ein anderes Kind ein größeres, schöneres, bunteres Eimerchen hat. Das privilegierte Kind beginnt zu plärren, sobald das benachteiligte Kind anfängt, an seinem Eimerchen zu zerren. Kaum sind die Mütter – Väter? – herbeigeeilt, ist der Zankfunke auch schon übergesprungen. Die Mutter des benachteiligten Kindes wird der Mutter des privilegierten Kindes in schrillen Worten vorhalten, wie ungerecht und unzumutbar es sei, dass deren Kind ihrem eigenen Kind, das mit einem alten schäbigen Eimerchen vorliebnehmen muss, mit seinem nagelneuen Luxuseimerchen vor der Nase herumwedelt. Der Gedanke, ihrem Kind zu erklären, dass schicke Eimerchen nicht das Wichtigste auf der Welt sind – oder dass ein Leben geprägt von Anstrengung und Leistungswille vor ihm liegen wird, strebt es bei seiner Herkunft danach, eines Tages ebenfalls in den Besitz funkelnder Eimerchen zu gelangen -, dieser Gedanke wird der Mutter des benachteiligten Kindes vielleicht kurz in den Sinn kommen. Sie wird ihn als unzeitgemäß verwerfen.
    Die Mutter des privilegierten Kindes wiederum wird der Mutter des benachteiligten Kindes in gleichfalls schrillen Worten darlegen, dass es eben Pech sei, wenn die andere ihrem Kind zum Spielen nur ein altes Eimerchen mitgeben könne. Da sie jedoch ungern als neoliberale bitch dastehen möchte, wird sie ihr Kind fragen, ob es das benachteiligte Kind nicht doch zehn Minuten mit seinem schönen Eimerchen spielen lassen könne. Das Kind wird den mütterlichen Vorschlag zur Güte plärrend ablehnen. Wie sollte es sich auch anders verhalten, hat es doch nie gelernt, ein »Nein« zu akzeptieren.
    Letztlich hoffen alle, dass die oberste Sandkastenaufseherin eingreifen und die Harmonie wiederherstellen wird – indem sie eine Runde Eiskrem für alle verspricht.
    Mit dem Schlichtungsmodell »Eiskrem für alle« hat die deutsche Politik den Sandburgfrieden in den letzten Jahrzehnten erfolgreich aufrechterhalten. Was aber tun, wenn die Zeichen der Zeit darauf hindeuten, dass die Eiskrem knapp wird? Offensichtlich lässt sich in einer Demokratie Harmonie – zumindest an der Oberfläche – erkaufen. Anordnen lässt sie sich nicht. Der Weg de r Zwangsharmonisierung ist Diktaturen vorbehalten.
    Wir können gern weiterhin rufen: »Harmonie! Harmonie über alles!« Dieser Ruf mag sogar von einer freundlichen Grundgesinnung zeugen. Letztlich wird er nur dazu beitragen, dass wir noch unfähiger werden, als wir es ohnehin schon sind, real existierende Differenzen auszutragen, Widerspruch und Ablehnung auszuhalten und so zu bändigen, dass sie nicht in Gewalt und Chaos enden. Materieller Wohlstand und das Zerfallen der geschlossenen Weltanschauungssysteme haben uns in Sachen Streit zu Analphabeten gemacht.
    Echter Streit kann nur von Personen ausgetragen werden, die für etwas streiten, das den engen Horizont ihres unmittelbaren eigenen Vorteils übersteigt. Altmodisch ausgedrückt: Streiten können nur Menschen, die für eine Idee einstehen, die größer ist
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