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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia
Autoren: Thomas Thiemeyer
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am Leben war. So verhielt es sich ja immer mit derlei Geschichten.
    Egomo hielt kurz inne und hob den Kopf, um sich zu orientieren. Er glaubte nicht an die Existenz des Ungeheuers – die Geschichte war nach seiner Überzeugung in die Welt gesetzt worden, um kleine Kinder zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass sie ihren Eltern besser gehorchten. Doch den Zwergelefanten gab es tatsächlich, genauso wie den Lac Télé. Wie sehr Egomos Schicksal mit dem des Sees verknüpft war, zeigte sich, als eines Tages eine weiße Frau zusammen mit einigen Begleitern in ihr Dorf kam. Es mochte sechs oder sieben Monate her sein. Sie hatte von Nachbarstämmen gehört, dass er der Einzige war, der sich in das verbotene Gebiet vorwagte. Sie lobte ihn für seine Tapferkeit und überhäufte ihn mit Geschenken, nur um etwas über den See und dessen Geheimnis zu erfahren. Irgendwann wurde ihm ihre Neugier jedoch lästig, und als er ihr unverhohlen einen Antrag machte, stellte sie die Schmeicheleien ein. Doch in der Zwischenzeit war sein Ansehen in den Augen der Dorfbewohner gestiegen. Nicht dass er sich ernsthaft Hoffnung gemacht hatte, diese Frau für sich zu gewinnen. Eigentlich hatte er nur Kalema eifersüchtig machen wollen, und das war ihm, so glaubte er, gelungen. Sie ließ sich natürlich nichts anmerken, doch bei ein, zwei Gelegenheiten ertappte er sie dabei, wie sie ihm lange, sehnsüchtige Blicke zuwarf. Da wusste er, dass sie genauso verliebt war wie er. Alles was er jetzt noch brauchte, um sie für sich zu gewinnen, war etwas Zeit und Glück bei der Jagd. Egomo war fest entschlossen, den Zwergelefanten zu erlegen und mit dem toten Tier in sein Dorf zurückzukehren. Und wenn er schon nicht das ganze Tier dorthin bringen konnte, so doch wenigstens den Kopf, einen Fuß oder einen Stoßzahn. Hauptsache irgendeine Trophäe.
    Was aus der weißen Frau geworden war, wusste er nicht. Sie war nach ungefähr einer Woche wieder verschwunden, es hieß, zum Lac Télé. Er hatte nie wieder etwas von ihr gehört oder gesehen.
    Egomo blieb wie angewurzelt stehen und hob den Kopf, als er ein tiefes, grollendes Röhren vernahm, das durch den Urwald hallte. So etwas hatte er noch nie zuvor gehört. Nicht, dass ihm die Laute von Flusspferden, Wasserbüffeln und anderen großen Tieren fremd waren, aber das hier war etwas anderes. Geradezu unheimlich.
    Auch die Geräusche der anderen Waldbewohner waren schlagartig verstummt. Als habe sich der Dschungel in ein riesiges, lauschendes Ohr verwandelt. Egomo presste sich an einen Stamm und griff nach seiner Armbrust. Er hielt die Luft an.
    Kurz darauf erklang das Geräusch von neuem. Doch diesmal ähnelte es eher einem Heulen. Einem Heulen, als fegte ein Sturm über die Wipfel der Bäume. Es schien eine Ewigkeit anzuhalten, ehe es erstarb und in der Ferne verhallte.
    Egomo lief ein Schauer über den Rücken. Das Heulen hatte wie eine Mischung aus Zorn und Trauer geklungen. Für einen Moment überlegte er, ob es sich vielleicht um einen von diesen Riesen handelte, die man immer öfter dabei beobachten konnte, wie sie sich durch den Wald fraßen. Eines von diesen rostzerfressenen, stinkenden Ungeheuern, die ganze Bäume verschlangen, um Platz für Straßen zu schaffen. Nein, entschied er. Die klangen anders. Sie besaßen keine Seele.
    Das Gebrüll stammte von einem Tier. Einem sehr großen Tier.
    Es kam genau aus der Richtung, in die er wollte.

2
    Freitag, 5. Februar
    An der kalifornischen Küste
     
    Der Schweißtropfen, der meine Schläfe hinabrann, fühlte sich an wie ein Insekt, das sich einen Weg ins Innere meines Schädels zu bahnen versuchte.
    Ich bemühte mich, Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Wie lange war ich jetzt schon unterwegs? Waren es zehn Stunden, zwölf oder vierzehn? Die Antwort hatte ich irgendwann nach der Zeitumstellung beim Anflug auf San Francisco verloren. Warum war ich überhaupt hier, und was erwartete mich? Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch der Anblick der schwirrenden Rotorblätter über meinem Kopf machte mein Vorhaben zunichte.
    »Sie haben wirklich keine Ahnung, warum Lady Palmbridge Sie eingeladen hat, Mr. Astbury?« Die Stimme des Piloten aus dem Helmlautsprecher übertönte blechern das Dröhnen der Hubschrauberturbine. Nur mühsam konnte ich den Blick vom Pazifik lösen, der fünfzig Meter unter uns gegen die Küste von Big Sur brandete. Die Aussicht hatte etwas seltsam Unwirkliches, und ich zwang mich, meine Gedanken vor einem erneuten Abgleiten zu
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