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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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DAS MEER GAB UND DAS MEER NAHM
    Wer fliegt gefiedert dorthin, wer steigt
    aus schwarzglänzenden Wassern empor?
    GUNNAR EKELÖF – TJÄRVEN
    Über den Sanddorn
    Vor dreitausend Jahren war Domarö kaum mehr als ein großer flacher Stein, der aus dem Wasser ragte, gekrönt von einem Findling, den das Eis zurückgelassen hatte. Eine Seemeile östlich erblickte man den runden Hügel, der später aus dem Meer aufsteigen und den Namen Gåvasten bekommen sollte. Sonst gab es nichts. Es sollte weitere tausend Jahre dauern, bis es die umliegenden Felseneilande und Inseln wagten, ihre Scheitel zu heben und zu jener Inselgruppe zu werden, die heute den Namen Schären von Domarö trägt.
    Da war der Sanddorn bereits nach Domarö gekommen.
    Unterhalb des riesigen Findlings, den das Eis entlassen hatte, war eine Uferlinie entstanden. In ihrem Steingewirr suchte sich der Sanddorn mit seinen Kriechwurzeln einen Weg, fand Nährstoffe in verrottendem Tang, wuchs, wo es eigentlich nichts gab, worin man wachsen konnte, und klammerte sich an die Steine. Der Sanddorn. Der Härteste der Harten.
    Und der Sanddorn trieb neue Wurzeln, kroch am Ufersaum entlang und wuchs in die Höhe, bis sich eine metallisch grüne Borte wie ein Schifferbart um Domarös unbewohnte Ufer legte. Vögel pickten sich die feuergelben Beeren mit ihrem bitteren Orangengeschmack, flogen mit ihnen zu anderen Inseln und verkündeten so das Evangelium des Sanddorns an neuen Ufern, und binnen weniger hundert Jahre sah man die grüne Borte in allen Himmelsrichtungen.
    Doch der Sanddorn schaufelte sich sein eigenes Grab.
    Der Humus, der sich aus seinen vermodernden Blättern bildete, war nährender als alles, was die Ufersteine zu bieten hatten. Daraufhin sah die Erle ihre Chance gekommen. In den Nachlass des Sanddorns säte sie ihren Samen aus, wuchs und wurde immer stärker. Der Sanddorn vertrug weder die stickstoffhaltige Erde, die durch die Erlen entstand, noch den Schatten ihrer Blätter, und zog sich ans Wasser zurück.
    Mit den Erlen kamen weitere, noch anspruchsvollere Pflanzenarten, und stritten sich um den Platz. Der Sanddorn war an eine Uferlinie vertrieben worden, die viel zu langsam wuchs, in hundert Jahren hob sich das Land nur um einen halben Meter. Obwohl er den anderen Pflanzen das Leben geschenkt hatte, war der Sanddorn verdrängt worden und lebte nun auf dem Altenteil.
    Also steht er dort am Ufer und wartet auf seine Stunde. Unter seinen schmalen, seidig grünen Blättern sind Dornen. Große Dornen.
    Zwei kleine Menschen und ein großer Stein (Juli 1984)
    Sie gingen Hand in Hand.
    Er war dreizehn, und sie war zwölf. Wenn jemand aus ihrer Clique sie gesehen hätte, wären sie auf der Stelle tot umgefallen. Sie schlichen durch den Nadelwald, horchten auf jedes Geräusch und jede Bewegung, als wären sie unterwegs in geheimer Mission. In gewisser Weise waren sie das wohl auch: Sie würden ein Paar werden, aber das wussten sie noch nicht.
    Es war fast zehn Uhr abends, aber der Himmel war noch so hell, dass sie die Arme und Beine des anderen als bleiche Bewegungen auf dem Teppich aus Torf und Erde sahen, auf dem noch die Hitze des Tages lag. Sie wagten nicht, einander ins Gesicht zu sehen, denn wenn sie es täten, würden sie etwas sagen müssen, und es gab keine guten Worte.
    Sie hatten beschlossen, zum Stein hinaufzusteigen. Als sie eine Weile auf dem Pfad zwischen den Fichten gegangen waren, hatten sich ihre Hände berührt, und einer von ihnen hatte zugegriffen, und dabei war es geblieben. Nun gingen sie Hand in Hand, und jedes Wort hätte das Einfache schwer gemacht.
    Anders’ Haut fühlte sich an, als wäre er den ganzen Tag in der prallen Sonne gewesen. Es glühte und brannte überall, und ihm war schwindlig wie von einem Sonnenstich. Er hatte Angst, über eine Wurzel zu stolpern, Angst, dass seine Hand schwitzte, und Angst, sein Verhalten könnte in für ihn unverständlicher Weise ein Verstoß sein.
    Manche in ihrer Clique gingen miteinander. Martin und Malin gingen jetzt miteinander. Früher war Malin mit Joel gegangen. Manchmal lagen sie zusammen und küssten sich, wenn alle es sahen, und Martin behauptete, er und Malin hätten unten bei den Fischerschuppen Petting gemacht. Unabhängig davon, ob dies nun der Wahrheit entsprach oder nicht, durften sie solche Dinge sagen, solche Dinge tun.
    Erstens waren sie ein Jahr älter, und zweitens sahen sie gut aus. Super. Dadurch waren eine Menge Dinge erlaubt, und sie konnten eine andere Sprache benutzen.
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