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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Kleine ein und strichen ihr übers Haar und über den weichen Stoffanzug, der das einzige Kleidungsstück war, das sie freiwillig anzog. Wenige Minuten später hörte Maja auf zu zittern, ihr Herz schlug ruhiger, und sie entspannte sich in Anders’ Armen. Er sagte: »Wenn du willst, kannst du ja stattdessen Schuhe anziehen.«
    »Ich will barfuß laufen.«
    »Das geht nicht. Der Fußboden ist zu kalt.«
    »Barfuß.«
    Cecilia zuckte mit den Schultern. Maja fror so gut wie nie. Selbst bei Minusgraden lief sie im Freien nur im T-Shirt herum, wenn keiner eingriff. Nachts schlief sie höchstens acht Stunden. Trotzdem war sie nur selten krank oder auch nur müde.
    Cecilia nahm Majas Füße in ihre Hände und pustete auf sie. »Jetzt musst du jedenfalls Strümpfe anziehen. Wir wollen einen Ausflug machen.«
    Maja setzte sich in Anders’ Schoß auf. »Und wohin?«
    Cecilia zeigte zum Fenster hinaus, in nordöstliche Richtung.
    »Nach Gåvasten. Zum Leuchtturm.«
    Maja lehnte sich vor und blinzelte ins Sonnenlicht. Der alte steinerne Leuchtturm war dort, wo er auf den Horizont traf, bloß als ein undeutlicher Riss im Himmel zu sehen. Es waren ungefähr zwei Kilometer bis zu ihm, und sie hatten nur auf einen Tag wie diesen gewartet, um den Ausflug zu machen, über den sie den ganzen Winter gesprochen hatten.
    Majas Schultern fielen herab. »Sollen wir da etwa hingehen ?«
    »Wir hatten überlegt, Ski zu laufen«, antwortete Anders und hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, als Maja auch schon aus seinem Schoß hochschnellte und in den Flur rannte. Sie hatte an ihrem sechsten Geburtstag zwei Wochen zuvor ihr erstes Paar Ski bekommen, und bereits bei ihrer zweiten Probefahrt hatte es richtig gut geklappt. Sie war ein Naturtalent. Zwei Minuten später hatte sie Schneeanzug, Mütze und Fäustlinge angezogen und kehrte zurück.
    »Jetzt kommt schon!«
    Sie trotzten Majas Protesten und packten Sachen für ein Picknick am Leuchtturm ein. Kaffee, Schokolade und belegte Brote. Anschließend holten sie die Skiausrüstung und gingen zur Förde hinunter. Das Licht blendete sie. Es herrschte seit Tagen Windstille, sodass auf den Ästen der Bäume noch immer Neuschnee lag. Wohin man sich auch wandte, alles war weiß, weiß, blendend weiß. Es war völlig unvorstellbar, dass es irgendwo Wärme und Grün geben konnte. Auch aus dem Weltall musste die Erde aussehen wie ein meisterhaft gepresster Schneeball, weiß und rund.
    Weil sie so übereifrig war, dass sie nicht still stehen konnte, dauerte es eine ganze Weile, Maja die Ski anzuziehen. Als die Bindungen schließlich gespannt und die Riemen der Stäbe um ihre Handgelenke gelegt waren, fuhr sie sofort aufs Eis hinaus und rief: »Guckt her! Guckt her!«
    Ausnahmsweise mussten sie sich keine Sorgen machen, wenn Maja auf eigene Faust loszog. Obwohl sie sich bereits hundert Meter vom Steg entfernt hatte, bis Anders und Cecilia ihre Skier angezogen hatten, war sie in all dem Weiß als ein leuchtend roter Fleck deutlich zu sehen.
    In der Stadt war das anders. Nachdem Maja einige Male auf eigene Faust weggerannt war, weil sie etwas gesehen hatte oder ihr etwas eingefallen war, hatten sie darüber gescherzt, ihr einen GPS-Sender anzulegen. Na ja, gescherzt. Sie hatten es ernsthaft in Erwägung gezogen, dann aber doch als eine etwas übertriebene Maßnahme wieder verworfen.
    Sie machten sich auf den Weg. Weit draußen fiel Maja hin, war aber schnell wieder auf den Beinen und fuhr weiter. Anders und Cecilia folgten ihren Spuren. Als sie gut fünfzig Meter weit gekommen waren, drehte Anders sich um.
    Ihr Haus lag am äußeren Ende der Landzunge. Aus beiden Schornsteinen stieg Rauch auf. Zwei schneebeschwerte Kiefern rahmten es zu beiden Seiten ein. Es war eine richtige Bruchbude, schlecht gebaut und ungenügend instand gehalten, aber in diesem Moment und aus dieser Entfernung sah das Haus aus wie das Paradies auf Erden.
    Anders zerrte mit etwas Mühe seine alte Nikon aus dem Rucksack, holte es mit dem Zoom näher heran und machte ein Foto. Eine Stütze für sein Gedächtnis, wenn er wieder einmal über undichte Wände und schiefe Fußböden fluchte. Damit er sich erinnerte, dass es ein Paradies auf Erden war. Jedenfalls auch. Er verstaute die Kamera und folgte seiner Familie.
    Zwei Minuten später hatte er sie eingeholt. Er hatte sich überlegt, zu spuren, um es für Maja und Cecilia leichter zu machen, durch die zehn Zentimeter hohe Schneedecke zu laufen, aber Maja widersetzte sich. Sie war
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