Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
Vom Netzwerk:
Worte bereits, als er sie aussprach. Es war eine idiotische Bemerkung, und er versuchte sie dadurch abzuschwächen, dass er hinzufügte, »wenn man das findet«, was jedoch auch nicht besser klang, weshalb er sich von ihr entfernte, dem Rand des Steins folgte.
    Als er einmal rundherum gegangen war, ungefähr dreißig Meter, und sich ihr wieder näherte, sagte sie: »Der Stein hier ist schon merkwürdig, nicht?«
    Darauf wusste er eine Antwort. »Es ist ein Findling. Sagt jedenfalls mein Vater.«
    »Was ist ein Findling?«
    Er schaute aufs Meer hinaus, richtete den Blick auf den Leuchtturm von Gåvasten und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was ihm sein Vater erzählt hatte. Anders ließ die Hand über die nähere Umgebung schweifen. Das alte Dorf, das Missionshaus, die Sturmglocke neben dem Lebensmittelladen.
    »Ja, also … als hier Eis lag. Über allem hier. In der Eiszeit. Da hat das Eis Steine mitgenommen. Und als es dann wieder geschmolzen ist, sind die Steine überall liegen geblieben.«
    »Wo kamen sie denn ursprünglich her?«
    Das hatte ihm sein Vater auch erzählt, aber er erinnerte sich nicht mehr. Woher konnten diese Steine gekommen sein? Er zuckte mit den Schultern.
    »Aus dem Norden, denke ich. Aus den Bergen. Dem Gebirge. Da gibt es doch … viele Steine.«
    Cecilia schaute über den Rand des Findlings. Auf der Oberseite war er fast eben, aber mit Sicherheit zehn Meter hoch. Sie sagte: »Das muss viel Eis gewesen sein.«
    Dazu waren Anders Fakten in Erinnerung geblieben. Er machte eine Bewegung zum Himmel hinauf.
    »Es war einen Kilometer dick.«
    Cecilia rümpfte so die Nase, dass ein Stich durch Anders’ Brust fuhr.
    »Nee?«, sagte sie. »Soll das ein Witz sein?«
    »Hat mein Vater gesagt.«
    »Einen Kilometer ?«
    »Ja, und dass … du weißt, dass die Inseln und alles, dass alles immer noch aus dem Meer aufsteigt, jedes Jahr ein bisschen mehr?« Cecilia nickte. »Das kommt daher, dass die Eisdecke so schwer war, dass sie alles irgendwie heruntergedrückt hat, und jetzt ist es immer noch dabei … wieder hochzukommen. Die ganze Zeit ein bisschen mehr.«
    Jetzt war er in Schwung gekommen. Er erinnerte sich. Weil Cecilia ihn immer noch interessiert ansah, machte er weiter. Er zeigte zu Gåvasten hinaus.
    »Vor zweitausend Jahren war hier nur Wasser. Das Einzige, was aus dem Wasser ragte, war der Leuchtturm da. Oder besser gesagt der Hügel. Auf dem heute der Leuchtturm steht. Damals gab es ja noch keinen Leuchtturm. Und der Stein hier. Alles andere lag damals noch unter Wasser.«
    Er schaute auf seine Füße hinab, trat in die dünne Decke aus Moos und Flechten, die auf dem Stein wuchs. Als er aufblickte, stand Cecilia da und ließ den Blick über das Meer, das Festland und Domarö schweifen. Sie legte eine Hand auf ihr Schlüsselbein, als hätte sie Angst bekommen, und sagte: »Ist das wahr ?«
    »Ich denke schon.«
    In Anders’ Kopf veränderte sich etwas. Er begann die gleichen Dinge zu sehen wie sie. Als er letzten Sommer mit seinem Vater hier oben gewesen war, hatte er dessen Worte als Fakten aufgenommen, und auch wenn das Ganze spannend gewesen war, so hatte er doch im Grunde niemals daran gedacht . Es niemals vor sich gesehen.
    Jetzt sah er. Wie neu alles war. Das alles gab es erst seit kurzer Zeit. Ihre Insel, der Grund, auf dem ihr Haus stand, sogar die uralten Fischerhütten aus Holz unten im Hafen waren nur Legosteine auf dem Urgestein. Ihm war flau im Magen, als wäre ihm schwindlig geworden, als hätte er Höhenangst angesichts der Tiefe der Zeit. Er schlang die Arme um sich und hatte plötzlich das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Sein Blick suchte den Horizont ab und fand keinen Trost. Er war stumm und unendlich.
    Dann hörte er links von sich ein Geräusch. Atemzüge. Er wandte den Kopf dorthin und entdeckte nicht einmal zwanzig Zentimeter von seinem eigenen entfernt Cecilias Gesicht. Sie sah ihm in die Augen. Und atmete. Ihr Mund war seinem so nah, dass er ihren Atem wie einen warmen Lufthauch auf seinen Lippen spürte, ihm eine Duftspur von Juicy Fruit in die Nase stieg.
    Hinterher konnte er es nicht fassen, aber es war wirklich so passiert: Er hatte nicht gezögert, sondern sich vorgelehnt und sie geküsst, ohne an das Ob und Wie zu denken. Er hatte es einfach getan.
    Ihre Lippen waren gespannt und ein wenig hart. Mit der gleichen unfassbaren Entschlossenheit presste er seine Zunge dazwischen. Ihre Zunge kam heraus und begegnete seiner. Sie war warm und weich,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher