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Anidas Prophezeiung

Anidas Prophezeiung

Titel: Anidas Prophezeiung
Autoren: Susanne Gerdom
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Anida

    ~ 1 ~

    »Simon! Herr Simon!« Mit schrillen Rufen lief der langbeinige Junge über den Hof und scheuchte dabei eine Schar von Hühnern auf, die sich friedlich gesonnt hatten und nun laut gackernd das Weite suchten.
    Der hochgewachsene Mann in der staubig-schwarzen Kleidung eines Kämpen drehte sich gemächlich um und stützte sich auf sein Übungsschwert. Sein Haar von der Farbe dunklen Zimts trug er straff im Nacken zusammengebunden, damit es ihm nicht ins Gesicht fiel, was seinem scharf geschnittenen Gesicht trotz seiner augenscheinlichen Jugend einen strengen, beinahe asketischen Zug verlieh.
    »Albuin, du lässt wieder einmal jede Zucht vermissen«, tadelte er mild. »Was habe ich dir über die Tugenden eines Ritters beigebracht?«
    Der gerügte Knabe fuhr sich mit einer nicht allzu sauberen Hand durch das strohfarbene Haar und schlug beschämt die Augen nieder. »Verzeiht, Herr Simon«, nuschelte er und zeichnete mit seinen schmutzigen Zehen verlegene Linien in den Staub. »Aber ich wollte Euch doch nur erzählen ...« Sein Gesicht leuchtete auf. Er begann, aufgeregt von einem Fuß auf den anderen zu hopsen. »Ich darf meinen Vater zum Hof des Roten Tetrarchen begleiten«, verkündete er mit heller Trompetenstimme. »Ich ganz allein, ohne die beiden blöden Gänse!«
    Der hünenhafte Recke brummte und legte dem Knaben eine Hand auf den Nacken, um ihn leicht durchzuschütteln. »Es zeugt nicht gerade von Anstand und Sitte, wenn du deine Schwestern Amali und Anida als ›blöde Gänse‹ bezeichnest, Albuin. Du wirst bald ein Jüngling sein, der seinem Vater zur Seite steht, und deshalb nimmt der Lord dich auch mit auf seine Reise. Du sollst von mir lernen, dich höfisch zu benehmen, aber wenn ich dich so ansehe ...« Er schüttelte mit finsterem Blick den Kopf. Der Junge blickte ängstlich zu ihm auf. »Geh jetzt und wasch dich. Wie ich sehe und rieche«, er rümpfte die Nase, »hast du dich wieder in den Stallungen herumgetrieben. Was gab es denn Interessantes?«
    »Die dicke Freida hat einen Haufen Ferkel geworfen«, antwortete der Junge eifrig. Er wollte sich in eine detaillierte Beschreibung des Vorganges stürzen, aber der junge Ritter unterbrach ihn.
    »Geh jetzt, säubere dich, Albuin. Ich erwarte dich in einer halben Stunde hier zum Unterricht. Lauf schon.«

    Er sah dem Knaben nach, wie er über den Hof stob, und lächelte schwach. Dann hob er sein hölzernes Schwert und führte es durch eine gemessene, tänzerisch anmutende Bewegungsfolge. Seine Schritte brachten ihn in den Schatten der hoch aufragenden Buche, die in der Mitte des ummauerten Hofes stand. Dort beendete er die Übung mit einer schnellen Drehung und ließ das Schwert sinken. Er schüttelte sich den Schweiß aus den grünlichen Augen und lehnte das Schwert an den glatten Baumstamm.
    »Also gut, komm da jetzt runter, Ida«, rief er leise. Er wischte sich über den Nacken, fuhr mit den gespreizten Fingern durch den zerzausten Zopf und band den Lederriemen neu, der ihn zusammenhielt. In dem dichten dunkelgrünen Laub über ihm rauschte es sanft, als hätte ein leiser Windstoß die Äste bewegt, dann war es wieder ruhig. »Ida«, wiederholte Simon geduldig. »Ich weiß genau, dass du da oben bist. Komm runter, ich verrate dein Versteck auch niemandem. Versprochen.«
    »Ritterehrenwort?«, erklang es aus dem Wipfel des Baumes.
    »Großes Ritterehrenwort«, antwortete der junge Kämpe. Er blickte aus zusammengekniffenen Augen in das dichte Gewirr aus Blättern und Zweigen, ohne die Besitzerin der Stimme ausmachen zu können. Wieder rauschte und raschelte es, und die dünneren Äste der Buche gerieten in Bewegung. Kurz darauf hörte er ein Plumpsen. Ein hoch aufgeschossenes, mageres Mädchen ließ sich von einem der untersten Äste fallen. Geschmeidig wie eine Katze fiel sie auf die Füße und klopfte sich die Hände ab.
    »Dein Vater sieht es gar nicht gerne, wenn du in den Bäumen herumkletterst«, bemerkte Simon und hockte sich auf eine der knorrigen Wurzeln, die sich in den trockenen Boden gruben. Das Mädchen rümpfte eine spitze Nase und erwiderte nichts. Aus rauchfarbenen Augen schoss ein vernichtender Blick auf den jungen Kämpen, ehe sie die Augen niederschlug und beinahe verlegen eine zottelige Haarsträhne um ihren Finger drehte.
    »Es ist doch egal, was ich mache. Mein Vater sieht mich nicht gerne«, sagte sie in erstaunlich erwachsenem Ton. Simon unterdrückte ein Lächeln und klopfte neben sich auf die Wurzel. Das Kind
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