Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
Vom Netzwerk:
Abschied von Montparnasse
    D ie Zeit war um, und sie wusste nicht recht, ob sie froh oder ängstlich sein sollte. Ein knappes Jahr voller nervenaufreibender Arbeit, ein Hörsturz und zwei Kilo Übergewicht für einen Halbsatz auf dem Papier ... Immerhin hatte sie ihn selbst formuliert, und es mochte für die Zukunft nicht unbedeutend sein, dass neben den üblichen Begriffen wie Top-Down-Ansatz und Allokation auch das Wort Paris darin vorkam. Das war die Biographie, man würde sie danach fragen. Und das Leben?
    Sie hatte den Nachmittag frei bekommen und wollte noch ein paar Geschenke kaufen. Doch während sie an den Schaufenstern der rue de Rennes vorüberging, achtete sie mehr auf ihr Spiegelbild als auf die Auslagen. Eine junge Frau mit selbstbewusster Haltung, der man in einem entsprechenden Kostüm den Beruf wohl angesehen hätte. Aber sie bevorzugte Jeans und Twinsets, möglichst schwarz; das reichte für die Arbeit hinterm Bildschirm völlig aus, auch in Paris. Auf die Schuhe kam es an. Und auf den richtigen Nagellack.
    Sie wohnte in der rue Delambre, in einer Hinterhofwohnung mit Drei-Faden-Dusche und knisternden Lichtschaltern, und weil ihr plötzlich graute vor den dunklen Räumen und den beiden zu packenden Koffern, beschloss sie, auf einen Kaffee ins »Dome« zu gehen, auch wenn sie es nicht besonders mochte. Aber seit dem Morgen wehte ein kühler Wind, und es hatte eine verglaste Terrasse.
    In der Tür lehnte wie immer der unvermeidliche Pierre – Pierre Camembert, wie sie ihn heimlich nannte –, in dessen Augen sie keine Gnade gefunden hatte in all den Monaten, jedenfalls nicht in Jeans und Twinset, da konnte das Trinkgeld noch so großzügig gewesen sein. Und dass sie im Nachbarhaus wohnte, galt ihm nichts. Nur ihr fuchsrotes Haar rettete sie gelegentlich, und an Tagen wie diesem, Vollmondtagen, schimmerte er durch, der Hauch von Geilheit hinter seinem hochmütigen Desinteresse. Er nickte knapp und trat zur Seite – gerade so viel, dass sich ihre Kleider nicht berührten. »Bonjour Mademoiselle. Schulfrei?«
    Dann hielt er ihr den Windfang auf, einen Vorhang aus dunkelgrünem Filz, und sie stieß etwas Luft durch die Nase und bestellte einen Grande Crème. Die Terrasse war fast leer an diesem frühen Nachmittag, nur ein älterer Mann in einem dunkelblauen Anzug saß an dem Tisch in der äußersten Ecke, trank ein kleines Glas Wein und schaute auf den Boulevard. Aus seiner Jackentasche ragte ein Buch, in dem ein paar Federn steckten, und auf dem freien Rohrsessel neben ihm lag ein Hut, oder besser: er stand dort, wie eine Schale. Ein rehbrauner Hut, randvoll mit Pilzen.
    Sie setzte sich in einigem Abstand und schlug die Beine übereinander. Die Zeit war um, und was kam jetzt? An Berlin dachte sie, an die Maisonette-Wohnung im Grünen, die Bertram für sie ausgesucht hatte, unsinnig viele Zimmer, an den vergrößerten Firmensitz und das neue Büro, das sie nach der Hochzeit beziehen würde, und plötzlich fühlte sie eine leise Verzagtheit. Doch als der Kellner ihr den Milchkaffee brachte, hob sie das Kinn. Eine Quittung musste ausgestellt werden.
    Sie wusste, wie ihr Lächeln wirkte; fast täglich, kaum zu sagen, gebrauchte sie es. Es konnte Unterschriften ersetzen, und auch in Pierres Miene löste sich etwas. Natürlich keimten jetzt Hoffnungen in dem kleinen Camembert, und sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und sagte: »Danke, Monsieur. Sehr freundlich. Ich wollte zwar einen großen Kaffee, aber egal ... Wissen Sie übrigens, dass Sie ganz außergewöhnliche Beine haben?« Da ging es auf, das Staunen in seinen Jägeraugen, und er legte den Kopf schräg, runzelte die Brauen; eigentlich war sein Mund recht hübsch. Sie drückte die Fingerspitzen gegeneinander. »Doch, doch. Ein fast vollkommenes O.«
    Dass einer wie er die Fassung verlieren würde, war natürlich nicht zu erwarten; dass ihm diese Fassung momentlang die Kehle beengte, schon. Er öffnete den Topf mit den Zuckerbriefchen, riss den Bon ein und nahm den Geldschein vom Tisch. »Oui, Madame«, sagte er heiser, und es klang fast ein wenig bekümmert. Dabei zählte er ihr das Wechselgeld hin. »Aber was soll man machen. Das kommt vom Schweine-Reiten.«
    Dann ließ er sie allein, und durchatmend sank sie zurück und sah auf die Kreuzung hinaus, auf den Strom der Passanten vor dem »Rotonde«. Einige fotografierten das grün angelaufene Denkmal des Dichters, wie hieß er noch ... Jedenfalls war es von Rodin, jedenfalls stand es in Paris,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher