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Rico, Oskar und das Herzgebreche

Rico, Oskar und das Herzgebreche

Titel: Rico, Oskar und das Herzgebreche
Autoren: Andreas Steinhöfel
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durchgestrichene Ortsschild, die Hamsterfelder und die schreckliche schnurgerade Straße und wünschte mir, Oskars Methode funktionierte auch für mich. Ich wette, es sind schon Leute krank geworden vor lauter Landschaft oder sogar daran gestorben.
    Mir war auch schon ganz schlecht.
    Der Wehmeyer startete die Maschine, und wir donnerten los.

    Für jemanden, der tiefbegabt ist und ins Förderzentrum geht, weil er einen Kopf wie eine Bingotrommel hat, ist ein Tagebuch die Erfindung des Jahrhunderts. Es ist gut gegen kleine Vergesslichkeiten. Bei großen Vergesslichkeiten hilft leider überhaupt nichts. Das weiß ich von Herrn van Scherten. Seine geliebte Hannah hatte ihre große Vergesslichkeit mit Anfang sechzig gekriegt.
    Als wir noch nicht allzu lange in der Dieffe wohnten, kam Herr van Scherten mit seiner Frau jeden Dienstag zu den Grauen Hummeln ins Gemeindezentrum. Mama hatte den Bingoabend gerade frisch für uns entdeckt, sozusagen, und sie mochte die beiden. Ich fand sie auch sehr nett. Herrn van Scherten konnte ich schon deshalb gut leiden, weil es ihm völlig egal war, dass ich tiefbegabt bin. Außerdem fand erFräulein Wandbeck genauso gruselig wie ich. Fräulein Ellie Wandbeck ist die Chef-Bingotrommeltante. Sie ist mindestens so alt wie die Siegessäule, und wenn sie auf der engen Bühne im Gemeindezentrum steht, wirkt sie fast genauso groß. Ihre Finger, mit denen sie die Bingokugeln aus der Trommel fischt, sind lang und knochig und spindeldürr, immer trägt sie enge schwarze Hosenanzüge, und sie hat eine Stimme, als flatterten ihr Kleidermotten im Hals herum.
    Â»Schwarz gefärbte Haare, in ihrem Alter!«, sagte Herr van Scherten einmal leise zu mir. »Ein fürchterliches Weib. Würde mich nicht wundern, wenn sie zum Frühstück tiefbegabte kleine Jungen frisst.«
    Â»Echt?«
    Â»Würde ich dich belügen? Mit den Füßen fängt sie an und arbeitet sich langsam nach oben. Deinen Kopf macht sie mit ’nem rostigen Büchsenöffner auf, aber erst ganz zum Schluss.«
    Â»Warum erst zum Schluss?«
    Â»Weil da am wenigsten drin ist. Lohnt sich kaum, was?«
    Und dann grinste er und gab mir einen kleinen Knuff, und ich grinste zurück, weil ich wusste, er hatte mich nur veräppelt.
    Seine geliebte Hannah war genauso klasse. Sie brachte mir zu jedem Bingoabend einen Schokoriegel mit. Manchmal holte sie sogar zwei Schokoriegel nacheinander aus ihrer Tasche, aber den zweiten guckte sie dann meistens so komisch an, als sollte der gar nicht dabei sein. Von mir aus hätten esauch drei oder vier sein können, es war ja noch massig Platz in der Tasche.
    Jedenfalls, irgendwann kreuzte Herr van Scherten plötzlich ohne die geliebte Hannah bei den Grauen Hummeln auf. »Wird immer schlimmer mit meiner Frau«, erklärte er Mama. »Kopp wie ’n Schweizer Käse inzwischen, nur mit viel mehr Löchern drin. Und täglich kommen welche dazu. Große Vergesslichkeit, da hilft nix mehr. Gar nix.« Er seufzte und holte ganz tief Luft, als könnte er damit die Traurigkeit in seiner Stimme verdünnen. »Das wird heute mein letzter Abend hier. Muss mich zukünftig kümmern um meine Hannah, daheim. Verstehen Sie doch, was?«
    Mama hatte genickt und Herrn van Schertens Hand mit den kleinen braunen Flecken drauf gestreichelt, und danach hatten wir ihn lange, lange Zeit nicht wiedergesehen. Erst vor ein paar Monaten tauchte er wieder auf, aber allein. Da war seine geliebte Hannah schon seit über einem Jahr tot. Gestorben an der großen Vergesslichkeit.
    Bis dahin hatte ich mir eine Weile lang gewünscht, die beiden kämen wenigstens noch ein letztes Mal gemeinsam zum Bingo. Nicht nur wegen der Schokoriegel, sondern vor allem, damit ich mir die Löcher im Kopp von der geliebten Hannah angucken konnte, denn ich denke ja auch manchmal, dass ich Löcher im Kopf habe, weil ich mir so wenig merken kann. Meine ist allerdings nur eine kleine Vergesslichkeit, denn irgendwas merke ich mir immer, also sind es wohl auch nur sehr kleine Löcher. Aber die reichen schonaus. Als ich vorgestern zu Edeka ging, um Birnen, Minitomaten und noch was zu kaufen, fiel auf dem Weg zum Laden das Nochwas einfach aus meinem Kopf. Ich hörte es förmlich auf den Gehsteig knallen und zerplatzen, und ich weiß noch, wie ich dachte: Wenn das jetzt eine Wassermelone gewesen ist, gibt das eine schöne Sauerei! Die Birnen
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