Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
Vom Netzwerk:
APOLOGIA PRO VITA SUA
    Es war einmal, im Jahr 1984, da verfasste ich ein anderes schicksalhaftes Dokument. Oberflächlich betrachtet handelte es sich um eine Bewerbung für ein Ferienlager für Jungen am Ossipee Lake in New Hampshire. Ich war vierzehn und lebte erst seit fünf Jahren in den Vereinigten Staaten. All die Zeit wohnten mein Vater und ich zusammen in einer Wohnung im obersten Stock eines Mietshauses in Dorchester, Massachusetts, einem dichtbesiedelten, multi-ethnischen Viertel im südlichen Einzugsgebiet von Boston, falls du noch nie dort gewesen bist. Obwohl ich meinen Akzent fast abgelegt hatte, ein Eishockeytrikot der Boston Bruins trug und mir alle Mühe gab, genauso zäh und trotzig zu wirken wie meine irisch-amerikanischen Mitstreiter, die die ethnische Minderheit von Dorchester bildeten, war ich im Geiste gerade erst eingewandert und entdeckte noch immer tagtäglich Dinge, die an meiner neuen Heimat erstaunlich waren. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, wie mein 25-Cent-Stück mit elektronischem Schluckgeräusch im Schlitz eines Videospielautomaten verschwand, und an den Anblick einer vibrierenden elektrischen Zahnbürste, und wie ich eines Tages von der Bushaltestelle aus einen nur wenig älteren Jungen sah, der in seinem Corvette-Cabrio am Straßenrand hielt und aus dem Wagen sprang, ohne die Tür zu benutzen. Ich erinnere mich an viele solcher Erlebnisse und an allerhand mehr, denn die Gefühle, die sie in mir hervorriefen, waren verwirrend. Anfangs platzte in mir eine kindliche Blase der Verwunderung, doch dieser Verwunderung folgte der Drang, sie schnell wieder zurückzustopfen, denn als echten Amerikaner hätte mich all das ja nicht die Spur beeindruckt. Befangenheit war mein ständiger Begleiter, und eine gewisse geistige Gespaltenheit, auf die ich zurückgriff, um keine blöden Fragen zu stellen wie damals, als Dad und ich eines Tages über die Grenze nach Rhode Island fuhren, um Besorgungen zu machen, und ich mich zügeln musste, um nicht nachzufragen, warum es zwischen den Staaten keine Grenzkontrollen gebe, denn ich hatte – man glaubt es kaum – eigens meinen deutschen Pass eingesteckt.
    Beim Kinderarzt fiel mir zum ersten Mal die Broschüre von Camp Ossipee in die Hände. Immer wenn ich krank war, sah ich sie mir an, bis ich sie irgendwann in meiner Jackentasche verschwinden ließ und mit nach Hause nahm. Ich starrte diese Broschüre wochenlang an – im Bett, im Badezimmer, wenn ich von meiner Klimmzugstange baumelte –, so lange, bis die Seiten allmählich zusammenklebten. Die amerikanischen Jungs auf den Fotos hingen in der Luft zwischen Klippenrand und See. Sie transportierten Kanus in Dreiergruppen. Ich stellte mir vor, wie ich mit ihnen zusammen schwimmen ging. Ich malte mir aus, wie ich durchs Getreide oder sonst ein Grünzeug kroch und lernte, wie man Fährten liest und Pilze sucht. Ich wäre der Macher, der Anführer, weniger Held als Vorreiter. Auf den Übergangsritus, der den ältesten Jungen in ihrem letzten Jahr vorbehalten war – einen Campingausflug mit Übernachtung allein auf einer abgelegenen Insel inmitten des Sees –, war ich besonders neugierig. Und im Grunde wurde hier mein künftiges Ich geboren, in diesem Bild: ich, Erik Schroder, Mannomann, der nachts sein Lagerfeuer schürt, allein , autark, befreit von den Fesseln der Gesellschaft. Ich würde einschlafen und am nächsten Tag als ein völlig anderer Junge erwachen.
    Um mich für das Ferienlager zu bewerben, musste ich einfach nur ein Formular ausfüllen und eine persönliche Erklärung abgeben. Auf was für eine Erklärung waren sie aus?, fragte ich mich. Auf was für einen Jungen? Ich saß am Kartentisch meines Vaters, blickte versonnen aus dem Fenster Richtung Savin Hill Road / Ecke Sagamore, wo sich zwei meiner Schulkameraden um einen kaputten Hockeyschläger stritten. Ich spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine meines Vaters ein. Ich begann zu schreiben.
    So gesehen gehörte meine Darstellung zum Aufrichtigsten, was ich je geschrieben hatte. Sie umfasste die Bürden der Geschichte, den frühen Verlust der Mutter, ein abgrundtiefes Pflichtbewusstsein und ein unerschrockenes Vertrauen in die Zukunft. Anders gesehen – wie es jeder sieht, einschließlich des Gerichts – war sie natürlich das reinste Machwerk. Eine falsche, verzerrte, fadenscheinige, schräge, verzweifelte Erfindung, die ich dir gebündelt zu Füßen legte, als wir uns kennenlernten. Aber es war 1984, und ich hatte dich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher