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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
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Ich führte die Sprechgesänge vor den Mahlzeiten im Speiseraum an. Mein erster Sommer ging zu Ende, und sie konnten mich nicht mehr abschalten. Danach hörte ich eigentlich überhaupt nicht mehr auf zu reden.
    Irgendwann war es Zeit für meinen Solo-Campingausflug. Es war mein dritter und letzter Sommer im Ferienlager, ein erstaunlich lauer Sommer. Ein gleichmäßiger Wind strich über die Oberfläche des Sees und die dunkel schillernden kleinen Wellen trommelten gegen den Boden des Chris-Craft-Bootes. Von den Jungen, die ich in den vergangenen Sommern vergöttert hatte, war keiner mehr da. Die jüngeren Neuankömmlinge mit ihren noch ordentlich gekämmten Haaren hingen auf dem Steg herum und sahen mir beim Ablegen zu, und mir ging auf, dass ich nun der ältere Junge war, derjenige, an den sie sich erinnern würden, wenn ich mal nicht mehr da wäre. Der Betreuer vom Bootshaus fuhr mich im Motorboot auf ferne Koordinaten zu und ließ mich dort mit einer Krone aus Mücken auf dem harten Strand zurück. Die Nacht zog sich endlos hin, aber das ist nicht das Entscheidende bei meiner Geschichte. Wovon ich dir erzählen will, ist, wie ich am nächsten Morgen das Boot durch den Nebel über den See tuckern hörte, wie ich den Reißverschluss meines Nylonzelts aufzog und aus dem Zelt schlüpfte wie aus einem Kokon, und wie ich erkannte, dass ich etwas wahrhaft Monumentales geschafft hatte: Ich hatte mir meine Kindheit selbst ausgesucht. Ich hatte eine Vergangenheit gefunden, die zu meiner Gegenwart passte. Und so wurde ich mit Hilfe von enthusiastischen Empfehlungen der Ossipee-Leute sowie einer Reihe von Fälschungen, auf die ich hier nur ungern eingehen möchte, auch wenn mir vor relativ kurzem noch auf verschiedenen Tischen Kopien davon unter die Nase geschoben wurden, am Mune College in Troy, New York, angenommen – unter dem Namen Eric Kennedy. In Mune jobbte ich neben dem Studium als Kassierer in einem mehrstöckigen Parkhaus, und das Pell-Grant-Programm stellte den Rest meines Schulgelds zur Verfügung (das ich übrigens zurückgezahlt habe). Mein Hauptfach war Kommunikationswissenschaften. Ich hatte überall Zweier. Intelligent im Unterricht, du weißt schon, aber unbeständig, sobald Eigenleistung gefordert war. Wegen meiner heimlichen Zweisprachigkeit war das Erlernen anderer Sprachen für mich ein Kinderspiel – Spanisch, sogar Japanisch auf Konversationslevel. Nach meinem Abschluss fand ich am medizinischen Zentrum in Albany einen Job als Übersetzer, und dort war ich sechs ereignislose Jahre tätig, frei wie ein Vogel.
    Natürlich sind Vögel nicht frei. Vögel tun auf freiwilliger Basis so gut wie gar nichts. Vögel gehören in der Natur zu den betriebsameren Kreaturen, sie verbringen jede freie Stunde mit Suchen und Horten und Vermeiden von Wettbewerbsnachteilen, einfach damit, ein Vogel sein zu müssen. Genau wie ein Vogel war auch ich ununterbrochen damit beschäftigt, Eric Kennedy zu sein, und genau wie ein Vogel sah ich das nicht als Arbeit. Ich sah es als Sein . Die frühesten und übelsten Täuschungen waren ja schon geschehen – will sagen, die Täuschung meines Vaters. Wann immer ich Eric Kennedy war, bedeutete das für Dad, dass er mich schwer erreichen konnte. Sogar als ich im Ferienlager war, hatte ich ihm erzählt, in der Wildnis von New Hampshire gebe es kein Telefon, aber wenn ich ihn anrufen sollte, würde ich mich gerne zu Fuß zur nächsten Stadt aufmachen, und natürlich sagte er: Nein, nein, Erik . Und fügte in gemessenem Englisch hinzu: Ich werde dich sehen, wenn ich dich sehe.
    Genau. Er würde mich sehen, wenn er mich sah, also sehr selten. Während meines Studiums war ich wie jeder andere junge Mann damit beschäftigt, interessanter zu erscheinen, als ich war – du weißt schon, eine Plattensammlung anzuschaffen, geistige Manifeste zu verfassen, ein paarmal in der Theatergruppe aufzutreten. Nur wenn es gar nicht anders ging, fuhr ich runter nach Dorchester. Im schwarzen Talar und Doktorhut ging ich allein zu meiner Abschlussfeier und lud Dad erst im Juli auf eine Campustour ein, als der Laden bis auf die Teilnehmer eines Tenniscamps wie leergefegt war. Während meiner Zeit am College hatte ich mich mit einem kinderlosen Professor angefreundet, und er war es, nicht etwa mein Vater, der die Bürgschaft für meine erste Einzimmerwohnung, sonnig und gegenüber dem Washington Park, übernahm.
    Ich war glücklich in Albany und verließ nur selten die Stadt. Ich mochte ihre heimelige Lage,
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