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Schattentraeumer

Schattentraeumer

Titel: Schattentraeumer
Autoren: Bettina Belitz
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    Es hatte keinen Sinn. Ich würde es auch heute nicht schaffen, in die Schwärze des Nicht-Seins abzutauchen. Seit Stunden lag ich hier auf meinem Bett und erahnte den Hunger immer noch. Gereizt schlug ich die Augen auf und spürte, wie ihre Farbe sich angesichts des matten Lichts der Gewittersonne zu verändern begann – heller wurden sie, grüner. Doch auch wenn ich sie schloss und ihnen ihr tiefes, funkelndes Schwarz zurückgab, würde das nichts daran ändern, dass ich nicht schlafen konnte. Nicht heute Nachmittag, nicht heute Nacht und auch morgen nicht. Schlaf war anderen, besseren Wesen vorbehalten.
    Wesen wie ihr, erinnerte ich mich mit einem schwachen inneren Lächeln. Mitten am Tag hatte sie geschlafen wie ein Murmeltier. Es lag erst wenige Stunden zurück, dass ich sie dabei beobachtet hatte, verborgen in meinem Auto und mein Gesicht versteckt hinter einer pechschwarzen Sonnenbrille, als wäre ich ein mieser Stalker. Doch es war mir unmöglich gewesen, mich von ihrem Anblick loszureißen – wie sie da im Wartehäuschen der Bushaltestelle saß, ein zartes, dünnhäutiges Zauberwesen mit mächtigen Gedanken und noch mächtigeren Träumen. Ihr Kopf lehnte an dem schmutzigen Plastik der Bank, ihre braunroten Locken bewegten sich sanft im schwülen Wind, während ihre Knie immer weiter zur Seite sackten, weil der Schlaf ihr jegliche Kontrolle rauben wollte. In mir grollte das animalische Begehren auf, zur Haltestelle zurückzufahren, sie an meine Brust zu reißen und hierherzuverschleppen. Zu mir, in den Schatten des Waldes. In mein Bett. Damit sie hier lag und ruhte und ich mich in das wirbelnde Durcheinander ihrer Fantasien hinabfallen lassen konnte, um endlich satt zu werden.
    »Nein. Das tust du nicht«, wies ich mich klar zurecht und wunderte mich wie so oft darüber, dass meine Stimme rein und samtig klang, als gehörte sie einem Edelmann. Täuschen konnte ich mit ihr und verführen, wenn ich wollte. Eigentlich hätte sie brüchig und rau sein müssen, eine Stimme, die den Teufel verriet, der in mir hauste. Doch ihre Reinheit half mir, mich auf meine Worte zu konzentrieren und mich glauben zu lassen, dass ich ihnen folgen würde. »Denk nicht einmal daran, Colin Jeremiah Blackburn. Nicht eine einzige Sekunde lang. Du beherrschst deinen Hunger. Nicht er dich.« Ich wusste zu gut, dass das eine Illusion war, aber Gedanken bedeuteten Macht, und wenn ich nicht mehr hoffte, dass es kraft meiner Gedanken anders werden könnte, war alles verloren.
    Langsam richtete ich mich auf, während die letzten Ruhemomente meiner Meditation sich verflüchtigten, als hätten sie es eilig, meinem Geist zu entkommen. Vielleicht würde es mir irgendwann gelingen, beim Meditieren wenigstens in eine Art Scheinschlaf zu geraten, das Bewusstsein noch wach, aber der Kopf vollkommen leer. Zeit zu üben hatte ich schließlich genügend. Unendlich viel Zeit.
    Mr   X erwachte aus seinem nachmittäglichen Katzenkoma, robbte auf dem platten Bauch zu mir herüber und schob seinen dicken schwarzen Kopf unter mein Knie. Auch meine anderen Katzen hatten sich wie so oft um mich herumdrapiert. Sie liebten es, wenn ich toter Mann spielte. Eine nach der anderen kroch zu mir auf den samtroten Bettüberwurf, um sich an meinen kühlen Körper zu schmiegen und in jenen seligen Schlummer zu verfallen, der mir fremd bleiben würde.
    Vorsichtig schob ich Mr   X beiseite, stand auf und lief über die knarrenden Holzdielen der alten Treppe nach unten in den Wohnbereich. Ich hätte meine Beine nicht benutzen müssen, ja, ich hätte auch jedes Geräusch vermeiden können, aber das Knarren und Quietschen des Holzes vermittelte mir das Gefühl, selbst entscheiden zu dürfen, was ich war. Eine Weile blieb ich zwischen Küche und Wohnzimmer stehen und horchte in mich, unfähig, das Bild des Mädchens zu verdrängen, wie sie in diesem schäbigen Ambiente der Haltestelle saß und schlief. Ihr halb offener Mund, das sanfte Rosa ihrer Lippen …
    »Stopp«, ermahnte ich mich erneut. »Bleib hier, Colin. Bleib im Jetzt. Es gibt nichts anderes.« Ich lebte seit Jahren alleine, also durfte ich auch wie ein alter Kauz mit mir sprechen, wenn es nötig wurde, und die deutsche Sprache eignete sich dank ihrer Klarheit und Strenge hervorragend dazu, sich selbst zurechtzustauchen. Mit dem Mädchen hingegen würde ich lieber Gälisch sprechen wollen, verschliffene, weiche Worte, geflüstert nur … ein Hauch auf ihrer Wange …
    Verdammt. Ich verlor bereits. Ich
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