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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
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wo wir waren . Guck dir an, unter welchen Umständen wir gelebt haben. Die Gesellschaft, in der wir gelebt haben. Ein falsches Regime, die Marionette eines anderen Landes. Künstlich. Paranoid. Eingesperrt. Das Herz braucht Inspiration. Das Herz braucht Möglichkeiten –«
    »Dad, bitte. Hör auf.«
    »Du konntest es nicht wissen, du warst zu jung. Also sage ich es dir jetzt.«
    »Nein«, erwidere ich.
    »Nein? Warum nicht?«
    »Darum.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    Ich lache und sehe mich im leeren Zimmer nach Rückhalt um. »Mein Gott, du bist gerade operiert worden. Hast du irgendwo unterschrieben, dass sich der Patient danach in langen und schmerzlichen Erlebnissen aus der fernen Vergangenheit ergehen soll? Geschichten, die niemand – die jeder – Außerdem hast du ungefähr zwölf verschiedene Beruhigungsmittel geschluckt, und ich trau dir nicht.«
    »Ich will erzählen, was passiert ist.«
    »Nein.«
    »Du willst nicht wissen, wie das mit uns gekommen ist?«
    »Nein.«
    »Während der Operation, da dachte ich, was ist, wenn mir jetzt etwas zustößt? Wenn ich dich allein lassen muss? Aber ich hab’s geschafft, und ich werde es dir jetzt erzählen.«
    »Nein!« Ich zittere am ganzen Leib. »Ich will es nicht wissen, Papa. Ich will es nicht hören.«
    »Lass mich, ich will’s dir erzähen. Es ist alles gut.«
    »Du bist krank. Du bist betrunken.« Ich schlage mir die Hand über den Mund und bin froh, dass er mich nicht sehen kann. Ich erhebe mich und trete ans Fenster. Die Straße ist menschenleer. Die obere Ecke des weißen Wohnhauses gegenüber wirkt in der Sonne wie eine Buchseite mit einem Eselsohr. Wir schweigen beide.
    Dann sagt mein Vater mit hohler Stimme: »Wir hatten eine Stunde, um an der Friedrichstraße zu sein …«
    »Genug«, sage ich. Ich gehe zurück zum Sofa und nehme ihm die Bierflasche ab. Er greift in der Luft danach. »Du solltest das nicht trinken. Du redest wirres Zeug.« Meine Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Du redest wirres Zeug.«
    Er stützt sich ab, um sich aufzurichten. »Mein Sohn. Ich sehe dich so selten.«
    »Ich weiß.«
    Von unten ertönt ein langgedehntes Hupen. Wir wenden beide den Kopf.
    »Der Parkplatz«, sagt mein Vater. »Du musst den Wagen wegfahren.«
    He! He, da oben! Eine weibliche Stimme ruft von draußen. He, Arschloch!
    »Damit bin wohl ich gemeint.« Ich nehme meinen Autoschlüssel. »Bin gleich wieder da.«
    »Nein«, sagt mein Vater erschöpft. »Geh du ruhig. Geh. Lebe dein Leben. Ich bin ja jetzt zu Hause. Ich will nur noch schlafen. Geh, geh.«
    Ich muss mir ein paar Tränen wegwischen. »Ich habe doch gesagt, ich bin gleich wieder da. Wo kann man hier parken?«
    »Victoria Street«, sagt mein Vater leise und drückt sich den Mullverband gegen die Augen. »Montag bis Mittwoch kann man in der Victoria Street parken.«
    Ich gehe die Treppe hinunter. Die Unebenheit der Stufen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Raus aus dem Nebeneingang. Die Vortür knallt hinter mir zu. Eine Frau in einem dreckigen Kleinbus beäugt mich durch ihren Seitenspiegel, eine Nelkenzigarette zwischen den Fingern. Ich steige in Angelas Firebird und fahre rückwärts aus der Einfahrt.
    Ich fahre schnell. Sehr schnell. Ich bin wieder auf dem Highway nach Norden. In der Victoria Street habe ich keinen Parkplatz gefunden. Das heißt, ich habe in der Victoria Street gar nicht erst nach einem Parkplatz gesucht. Ich drücke das Gaspedal durch und ziehe auf die Überholspur. Bis dahin hatte ich mich wie immer ans Tempolimit gehalten mit meiner instinktiven Angst vor der Polizei, vor einem Hinterhalt. Aerosmith passt jetzt überhaupt nicht mehr, und so blicke ich nur wütend auf die Straße, versuche mich in Gedanken zwei Stunden weiter zu katapultieren, hinein in die üppigen Ausläufer zwischen Stockbridge und Austerlitz, in die Erwartung der Grenze nach New York, in die Vorfreude auf Angela.
    Komm bald wieder. Versprich mir, dass du bald wieder da bist.
    Ich tue so, als wenn ich gebraucht würde, und deshalb schlängele ich mich durch den Verkehr in Richtung North Shore. Ich tue so, als wenn ich undurchdringlich wäre, als wenn ich keine Zukunft hätte, oder zumindest keine Zukunft, die mich jemals zu packen bekommt. Ich tue so, als wenn ich niemals irgendetwas besitzen würde, das ich nicht ebenso gut verlieren könnte. Ich tue so, als wenn ich nicht zu stoppen wäre und nichts davon wüsste, dass ich dreizehn Jahre später in eine Scheibe aus Glas laufe, von der ich
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