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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
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gewaschen auf einem Bett und wartet stundenlang und sagt hin und wieder: Zum ersten Mal musste ich mal nicht stundenlang in der Notaufnahme warten. Die Nacht ist eine rhythmische Abfolge von gequälten Schreien und leichtem Geplauder. Dazwischen isst man zusammen Eisstückchen. Schwestern gehen ein und aus, ein und aus, tektonische Platten verschieben sich, und Sterne sterben, und endlich kommt die Geburtshelferin herein und sagt, wir werden jetzt die Geburt einleiten, und dann wird sie eingeleitet, und die Wehen kommen in kürzeren Abständen, aber siehe da, immer noch kein Durchbruch in der Felswand des Muttermundes. Es ist, als wollte man ein Schott aufzwingen. Aber inzwischen sind Fristen gesetzt und ist alles Mögliche an ärztlichem Kleingedruckten gedruckt worden, und plötzlich ist man mit ihr zusammen zum Notfallehrengast aufgestiegen. Man selbst – der Vater – bekommt einen blauen OP-Kittel in die Hand gedrückt und wird in eine Art Besenkammer geschoben, während die Frau in den OP gefahren wird, gefolgt von einem hochgewachsenen Anästhesisten, der ausgerechnet, Ironie des Schicksals, Deutscher ist.
    Aber man ist einfach nur froh, dass man nicht selbst operieren muss. (Als man den Kittel in die Hand gedrückt bekam, hatte man sich das schon gefragt.) Man muss sich nur verdammt noch mal beeilen und sich umziehen und den OP finden, und in den erschütternden Momenten, in denen man von ihr getrennt ist und sich umzieht, geht einem auf, dass man diese Frau niemals im Leben verlieren will und dass man jetzt durch so etwas wie einen Erfahrungsstrang miteinander verbunden ist, der stärker ist als jede Kordel, jedes Kabel, jedes Tau. Stärker als alles von Menschenhand. Im wahrsten Sinne gekreuzigt liegt sie im Licht, festgebunden an den Handgelenken auf einem T-förmigen Tisch, als man dazukommt und sich auf den Stuhl setzt, der nun neben ihrem Kopf steht. Und man trocknet ihr die Wangen, weil sie weint. Und man beruhigt sie. Man sagt, ist ja gut, mein Engel. Man sagt, ich bin hier. Und als sie ihr den Bauch aufschneiden, schaut man nicht mal auf ihren Bauch. Weil man nicht mehr mit ihrem Körper spricht. Nein, man spricht nicht mit ihrem Körper. Weil ein Raum geschaffen wird durch alle Gipfelformen der Liebe. Und an diesem entlegenen Ort spricht man mit ihrer Seele. Es ist ein Raum, den man noch nie zuvor betreten hat, und es ist ein Raum, den man vielleicht nie wieder betreten wird. Von diesem Raum soll man eigentlich gar nichts wissen.
    Am Ende hat man sich noch nie in seinem Leben einem anderen Menschen so nahe gefühlt.
    Man sagt sich, das werde ich niemals vergessen. Niemals werde ich daran Verrat begehen. Dies wird die Messlatte für mein Leben sein. Und selbst wenn ich versage, werde ich niemals meine Pflicht vernachlässigen, ich werde daran glauben und danach leben.
    Aber man tut es nicht.
    Das heißt, man vergisst eben doch. Man wird selbstzufrieden. Und eines Sommerabends, wenige Jahre später, auf dem Hügel über dem College of Saint Rose, mitten in einem spontanen Fußballmatch, blickt man über das balsamgrüne Tal des Hudson River, und man fragt sich, ja, aber was war dieses andere? Wie ging noch mal dieser Traum, an den ich mich erinnern sollte? Es ist spät, und eigentlich muss man nach Hause, aber man sagt sich, macht bestimmt nichts, wenn man die Halbzeit noch zu Ende spielt. Und bevor man aufs Feld zurücktrabt, bemerkt man in aller Seelenruhe, dass man das Vergessene nicht mal mehr in der Kategorie Vergessenes finden kann. Und man lässt es los, einfach so. Man mochte das Gefühl der Liebe, aber an der Arbeit an ihr war einem nicht gelegen, also hat man sie losgelassen. Man hat sie aufgegeben, weil sie schwierig geworden wäre. Man mochte sie nur, als sie gut war, als sie einem gut stand. Als sie einem mehr abverlangte, sträubte man sich gegen sie; man tat sogar so, als hätte einen nie nach ihr verlangt. Man vergaß, dass man ihr etwas schuldig war, dass man ihr die Mühen der Liebe schuldig war. Man hoffte, auch sie würde irgendwann vergessen. Man hoffte, sie würde einen eines Tages vergessen und sich selbst vergessen und einen weiterhin huldigend vor sich hertragen. Sie hat Jahre gebraucht, um dahinterzukommen. Und dann hat sie es irgendwie geschafft. Aber man selbst, man kam nicht hinterher. Man stellte sich nie etwas jenseits der Eroberung vor. Und diese Reue lässt einen jetzt nicht mehr los, jetzt, wo man auf einmal so viel Zeit hat.
    So. Viel. Zeit.
    Ich habe dich
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