Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
Vom Netzwerk:
all den rituellen Stellen fünfzig Mal abgeküsst, wirst du deine Beine in eine Wolldecke einschlagen und versuchen zu lesen.
    Aber weit wirst du nicht kommen. Ein bis zwei Seiten. Es ist zu viel. Du wirst es später lesen. Mit der Verhandlung willst du immer weniger zu tun haben. Deine Aussage bei meiner Anhörung wird kurz und unwillig sein. Du willst weitermachen mit deinem Leben. Du wünschst mir nichts Böses mehr, aber mittlerweile gibst du nicht mehr viel darum, was aus mir wird. Irgendwo in deiner Seele hast du dich freigemacht, dich abgekoppelt, du hast losgelassen. Du hast dich deiner Tochter zugewandt, um ihr Glück zu fördern und dich für ihre Fragen zu wappnen. Tatsächlich geht mir jetzt erst auf, dass du dieses Dokument nur dann jemals lesen würdest, wenn du eingreifen wolltest. Wenn du mich retten wolltest.
    Wie seltsam, ausgerechnet hier zu schweigen. Oft habe ich plaudern wollen, allein um zum Lärm beizutragen. Ständiger Lärm, ständige Helligkeit. Und ich sitze wie ein Dichter mittendrin. Schon komisch, den Leuten zuzuhören, wenn man selbst nichts entgegnen kann. Die Leute reden und reden. Halten erstickend lange Monologe über belanglose persönliche Vorlieben. Referieren Wort für Wort sinnlose Gespräche. Lauter unausgegorenes Zeug. Nehmen wir nur mal den Mann aus der Zelle nebenan. Ein klassischer Wiederholungstäter, ein echter Knastopa. Er wirkt beinahe erleichtert, dass er wieder in Haft sitzt, denn so kann er nach Herzenslust reden. Er redet den lieben langen Tag. Eine knappe Woche nach meiner Auslieferung an das CCI Albany traf er hier ein. Da er zur Sternstunde meiner Nachrichtenpräsenz draußen war, ist er ein Fan meines Falles und textet mich durch den Belüftungsschacht hindurch endlos damit zu. Angeblich kennt er die für meinen Fall zuständige Staatsanwältin und verbringt ganze Stunden damit, mit einer gewissen blutleeren Bewunderung einen ihrer Prozesse nach dem anderen auseinanderzunehmen, und ich kann nicht anders, als ihm zuzuhören.
    »Keine Angst, Kennedy«, sagt dieser Mann. »Sobald die merken, dass du kein Monster bist, haut die Sache hin. Und du bist kein Monster. Ohne deinen berühmten Namen wärst du nicht mal hier. Schon verrückt, was? Wenn du kein Kennedy wärst, hätte sich kein Schwein mit dir abgegeben.«
    Ich stütze meinen Kopf gegen die Wand und massiere mir mit der körnigen Oberfläche den Schädel. Ich sitze an meinem Metallschreibtisch. Mein Hocker ist klein wie im Kindergarten und eingebeult wie ein altes Kuchenblech. Ich habe meinen gelben Schreibblock. Ich habe meinen stumpfen Bleistift. Köstliche fünf Minuten gehen kommentarlos vorbei. Ich schließe die Augen und lasse meine Gedanken tänzeln, ich erinnere mich. Kurz darauf sehe ich einen vertrauten Schatten auf mich zukommen, der vor der Küchenvertäfelung hin und her wankt. Jemand betritt die Küche, sein Gesicht ist verbunden. Ich öffne die Augen, warte auf angenehmere Erinnerungen. Aber sie stellen sich nicht ein.
    »Kennedy, das haut schon hin. Das haut hin.« Ich höre, wie sich mein Freund mit seinem vollen Gewicht gegen die Zellentür lehnt, und staune über seine Fähigkeit, den ganzen Tag zu stehen. »Aber was heißt das schon, was? Die lassen dich nie wieder zu der Kleinen. Die werden versuchen, dich wieder nach Bayern abzuschieben oder Gott weiß wohin.«
    Seufzend stehe ich auf. Ich lege mich auf meine Matratze, den Unterarm über den Augen. Meine Beine, die Matratze, alles steckt in kariertem Wegwerfstoff. Das Bettzeug ist echt, man könnte es sogar weich nennen.
    Die Stimme meines Kollegen dringt durch den Schacht an mein Ohr. »Was ich mich frage – fehlt’s dir, Kennedy? Ich meine, dein Phantasieleben?«
    Fast hätte ich gelacht. Und? Fehlt mir Twelve Hills? Fehlen mir meine Phantasiemutter und mein Phantasievater? Fehlt mir gar die auf haltlosen Behauptungen beruhende Verwandtschaft mit einer berühmten Familie?
    Ich hatte mir alles so gut ausgedacht. Es war schon so weit gediehen, dass ich mich dabei sehen konnte, wie ich als Kind im zuckrig-feinen Sand vor unserer Bucht buddele oder wie mir meine Lieblingslehrerin vorliest oder wie ich beim Gehen von den breiten Ärschen meiner Kinderfrauen flankiert werde. Diese Visionen waren so real, dass sich, wenn ich mich in meinem Kopf umsah, in der Totalen, eine Szenerie vor mir erhob – nicht flach, sondern unendlich –, und hättest du mich gefragt, was sich jenseits dessen befinde, was man sehen könne, na ja, ich hätte es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher