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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
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noch nicht kennengelernt. Ich log ja nicht dich an – ich war bloß ein Kind, ich saß an der Schreibmaschine meines Vaters, die Füße in weißen Sportstrümpfen, die Haare noch kaninchenblond und nicht mit dunklem Ansatz wie jetzt. Ich beschriftete den Umschlag. Ich klaute mir eine Briefmarke. Als es Zeit war, meine Unterschrift unter die dichtgedrängte Seite zu setzen, signierte ich ziemlich schwungvoll mit jenem Namen, unter dem du mich kennenlernen solltest. Die Wahl des Nachnamens fiel mir nicht schwer. Ich wollte den Namen eines Helden, und meines Wissens gab es nur einen einzigen Mann, den man in Dorchester als Helden bezeichnete. Ein Junge von hier, ein verfolgter Ire, ein Halbgott. Er war derselbe Mann, der 1963 vor einer jubelnden Menge niedergeschlagener Westberliner eine Rede gehalten und sie mit einem schimmernden Gefühl der Selbstachtung zurückgelassen hatte, das noch lange nach seiner Ermordung anhielt, und sein Heldenstatus war noch immer intakt, als mein Vater und ich sehr viel später schließlich ins Land kamen. Man könnte sogar behaupten, John F. Kennedy sei der Grund gewesen, warum wir in diesem Land überhaupt erst aufgetaucht waren.
    Monatelang fing ich in Erwartung der Zusage aus Ossipee die Post ab. In diesem Brief würde mir nicht nur ein Vollstipendium für das Ferienlager zugesichert, man hätte auch Verständnis für meine Probleme. Ich träumte so oft von diesem Brief, dass ich es kaum fassen konnte, als er tatsächlich eintraf. Ossipee steht für die Überzeugung, dass jeder Junge das Recht auf richtige Sommerferien hat … es ist uns ein Anliegen, Jungen auch aus problematischen Verhältnissen zu unterstützen … Wir erwarten Dich hier am Ufer unseres herrlichen Sees … Ossipee – wir machen aus braven Jungen noch bessere Männer. Ja!, ja!, dachte ich. Ich bin dabei! Problematische Verhältnisse, habe ich, jede Menge sogar! Meine Aufregung erfuhr einen Dämpfer, als Dads Schlüssel unten im Hausflur klimperte, und mir ging auf, dass ich ihm den Brief, der an einen Fremden adressiert war, ja gar nicht zeigen konnte. Stattdessen legte ich ihm die zerfledderte Broschüre vor. Ich erzählte ihm von einem Telefonat mit dem Lagerleiter persönlich. Dann drehte ich das Stipendium obendrein als leistungsabhängig hin und setzte so das Sahnehäubchen auf unser beider Phantasie. An diesem Abend konnten wir nicht eine Minute stillsitzen. So selbstvergessen vor Freude hatte ich meinen Vater selten erlebt.
    Meine Geschichte wurde nie hinterfragt. Als es so weit war, stieg ich in Boston in den Bus und fuhr zwei Stunden nordwärts bis in eine Stadt namens Moultonville, wo jemand vom Ferienlager wartete, um mich und noch einen anderen Stipendiaten, den wir in Nashua abholen mussten, in Empfang zu nehmen. Als wir aus dem Bus stiegen, kam eine kräftige Frau in einer Leinenhose auf uns zu. Es war Ida, die Köchin und einzige Frau in unserem Ferienlager. Murmelnd stellte sich der andere Junge vor. Ida sah mich an. »Dann bist du sicher Eric Kennedy.«
    Warum kauften sie mir mein Märchen ab? Weiß der Geier. Ich kann nur sagen, es war 1984. Man konnte seine Sozialversicherungsnummer per Post beantragen. Datenbanken existierten nicht. Man musste reich sein, um eine Kreditkarte zu kriegen. Man bewahrte sein Testament im Banksafe auf und packte sein Geld zu einem dicken Bündel. Der Mensch war noch nicht gläsern. So etwas wollte niemand. Man war der, der man vorgab zu sein. Und ich war Eric Kennedy.
    Und der war ich die nächsten drei Sommer lang. Eric Kennedy mit der ruhigen Hand. Eric Kennedy, der Eiserne. Eric Kennedy mit der erstaunlichen Singstimme. Meine Verwandlung war verblüffend. Im ersten Sommer sprach ich noch mit einem Beben in der Stimme, um bloß keinen Akzent durchklingen zu lassen. Ich hegte die Angst, dass irgendjemand auf mich zukommen und mich auf Deutsch nach dem Weg zum Bahnhof Zoo fragen könnte und dass ich ihm antworten würde. Aber das ist nie passiert, und außerdem misstraute mir ja niemand, niemand nahm mich unter die Lupe oder schien mir Böses zu wollen; im Ferienlager wurde den Jungen beigebracht, dass anderen zu vertrauen etwas ist, was man um seiner selbst willen tut, was der Erbauung dient, und diese altmodische Lektion, sosehr ich sie auch verdreht haben mag, rechne ich den Leuten dort noch heute hoch an. Mit der Zeit verließ ich die Peripherie der Gruppe und bewegte mich aufs Zentrum zu. Ich zog mein Hemd aus und beteiligte mich an den Tänzen ums Lagerfeuer.
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