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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen
Autoren: Amity Gaige
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sagt, Liebe sei »nur ein Wort«. Wenig erfahren, wie ich bin, scheint mir das vernünftig. Ich liebe Angela nicht, aber dort auf dem Mohawk Trail fehlt sie mir doch. Meine Bettgeschichte, meine Arbeitshypothese. Mit ihr verbinde ich alles, was ich an Albany schätze, nämlich, dass ich keinerlei familiäre, kulturelle oder philosophische Verbindung zu dieser Stadt habe. Mit Albany verbindet mich nur mein freier Wille.
    Als ich die Wohnung in der Savin Hill Road betrete, setzt mein Vater sich auf und sagt auf Englisch: »Danke, dass du gekommen bist.« Er ist vollständig bekleidet und scheint doch lange geschlafen zu haben. Wie immer bin ich weder auf seine Anständigkeit vorbereitet, auf seine Ruhe, ja fast Eiseskälte, noch darauf, wie sehr es mich frustriert, dass er noch immer auf dem Sofa schläft statt in dem Zimmer, das ich längst für ihn geräumt habe. Mir ist, als müsste ich tief Luft holen, als müsste ich wieder und wieder seufzen, und ich spüre, wie mich die verräterische Schlappheit lange nach dem Treppensteigen in den dritten Stock hinauf befällt. Gerade eben habe ich es kaum durch den Hausflur mit seinen verputzten Wänden geschafft, in dem ich früher immer mein gebrauchtes Geländefahrrad abgestellt habe. Warum schmerzt mich der Hausflur? Warum schmerzt mich die Erinnerung an das Rad? Ich weiß es nicht. Ich weiß es immer noch nicht. Ich ziehe meinen Schlüssel aus dem Schloss, drehe mich um und schenke meinem Vater ein aufmunterndes Lächeln. Unsicher blickt er von seinem Platz auf dem Sofa zu mir hoch. Mir wird klar, dass ich einen Blinden angelächelt habe.
    »Ah«, sagt er und tappt auf dem Fernsehtisch herum. Er nimmt eine Art Schweißerbrille zur Hand und setzt sie über seine eigene Brille. Hinter vergrößerten Augen findet er mich.
    » Jetzt seh ich dich«, sagt er.
    Plötzlich bin ich gerührt, und ich gehe zu ihm und drücke ihm die Schulter. »Hallo, Papa. Ich bin da.«
    »Entschuldige, ich seh nicht sehr gut aus«, sagt er.
    »Wieso?«, sage ich. »Ist doch alles bestens.«
    »Ich kann nichts sehen.«
    »Na, mich kannst du doch sehen.«
    »Ich kann dich kaum erkennen.«
    »Es wird alles gut .«
    Er drückt mir das Handgelenk. »Mein Sohn. Du bist gekommen.«
    Meine Kehle schnürt sich zusammen. Richtig – jetzt erinnere ich mich –, die Operation birgt das minimale Risiko permanenter Erblindung. Er hat Angst. Aber statt ihm Trost zu spenden, spüre ich, wie mir der Magen in die Kniekehlen rutscht, und aus meinem Innern wird das Heulen eines Kindes laut. Gott, nein, denke ich. Du kannst jetzt nicht weinen, du Stück Scheiße. Wenn du anfängst zu heulen, wirst du dir das niemals verzeihen. Trottel. Idiot. Schwächling. Und da schließe ich einen Pakt mit mir selbst. Ich sage: Lieber Gott, wenn du mir dabei hilfst, Dorchester ohne Tränen hinter mich zu bringen, werde ich nie wieder einen Fuß in diese Wohnung setzen. Ich werde komplett verschwinden.
    Das Heulen stoppt in meiner Kehle und zieht sich wieder zu einem Schweigen zusammen.
    Mit der Operation geht alles gut. Am Ende des Tages fahre ich meinen Vater zurück in die Wohnung. Ich führe ihn am Ellenbogen die Treppe hoch. Seine obere Gesichtshälfte ist verbunden. Ich schere mich nicht um die Vorschrift, im Hof zu parken, sondern lasse das Auto direkt vor der Tür stehen und blockiere damit die Einfahrt. Ich bette meinen Vater mit ein paar zusätzlichen Kissen auf das Sofa. Er bittet um ein Bier. Ich gehe an den alten Kühlschrank, hole ihm ein Bier, öffne die Flasche und führe die schäumende Öffnung an seinen Mund. Wir sitzen zusammen da, und er trinkt sein Bier, Schluck für Schluck, und einen Moment lang genieße ich fast das vertraute Gefühl seines Schweigens.
    »Fehlkommunikation«, sagt mein Vater und trinkt einen Schluck. »So nennt man das wohl.«
    »Was?«, frage ich. »Was hast du gesagt?«
    »Wir standen unter einem schlechten Stern.«
    »Von wem redest du, Dad?«
    »Deine Mutter. Deine Mutter und ich.«
    Ich klopfe mir aufs Knie. »Du solltest dich ausruhen.«
    »Aber es geht einem leicht von den Lippen. Fehlkommunikation. Es musste so kommen. Die Macht der Sprache war uns abhandengekommen. Wir wurden wieder wie Kinder.« Er wendet mir sein verbundenes Gesicht zu. »Ich würde es dir gern erklären.«
    »Dad. Du musst es mir nicht erklären«, sage ich. »Das ist Schnee von gestern.«
    »Ich habe es lange nicht richtig verstanden. Die Liebe. Die Möglichkeiten. Sie sagte, ich sei lieblos. Aber guck dir an,
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