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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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PROLOG BERLIN 1923
     
     
     
    Das Leben e rwachte in ihr wie e i ne Gestalt im Licht s tra h l eines Fil m projektors. Und wie die Menschen auf der Leinwand, eben noch ungeboren, ohne Stim m e und ohne Vergangen h eit, so fühlte auch sie s i ch in diesem Mo m en t , konturlos und nur von einem Gedanken bestim m t :
    Ich weiß nicht, wer ich bin.
    Sie fragte si ch, warum i hr Haar blo n d war. W ar sie nic h t im m er dunkelhaarig gewesen? Dunkelbraun, von der Farbe reifer Kastanien; sie hatte sich abgewöhnt, es kastanienbraun zu nennen, denn aus irgendeinem Grund glaubten alle, das bedeute Rot.
    Sie lag auf dem Boden, und ihre W ange ruhte in m itten der Flut ihres Haars. Er st als sie den Kopf langsam hob, wurde ihr bewusst, dass er wehtat. Ihr war schwindelig.
    Da war noch etwas, an das sie sich erinnerte. Ihr N a m e. Chiara Mondschein.
    Sie registrierte ihn, wie ein Fre m der ihn registriert hätte, und sie wunderte sich, wie extravagant er klang. Chiara Mondschein. Kein schlechter Na m e.
    Sie setzte sich auf, von einer erneuten Schwindelattacke geplagt, und blickte sich im Raum um. Sie wusste nic h t, wie sie hierher geko mm en war. Was vorher geschehen war. Und wer ihr Haar blond g e färbt hatte. Oder hatte sie selbst das getan? Es war kein hübsches Blond, kein Gedanke an Gold, eher weiß und zie m lich spröde. Als hätte es sehr schnell gehen m üssen.
    Die W ände des Raumes waren kahl. Es gab keine Fenster, nur eine stabile T ü r, und die war geschlossen. Chiara spürte, dass der kalte Luftzug, der sie geweckt hatte, durch den Spalt unter dem Eingang hereinwehte, über das Linoleum strich und ihre Hände erreichte, auf die sie sich stützen m usste, um nicht nach hinten zu f allen.
    Durch das S chlüsselloch sah sie L i cht, heller als bei i h r im Z i mmer. An der Decke dämmerte eine L a m pe; der Schirm hatte das W eiß eines Bra u tkl e ids, d a s durch zu viele Hände gegangen war. An noch etwas erinnerte sie dieses Gra u , das W eiß sein wollte: an d i e Leinwände sch m uddeliger Vorstadtkinos, W elten entfernt vom Glanz der großen F il m paläste.
    Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes. Ihre Vergangenheit war nicht vollko mm en ausgelöscht, sie konnte Teile davon spüren wie etwas, das sich nur knapp außerhalb ihrer Reichweite b e fand. Vielleicht verspürte sie deshalb keine Panik. Unruhe, gewiss, aber keine Panik. Wo m öglich war sie noch viel zu benommen. W enn die Leere in ihrem Gedächtnis s i e nicht in den W ahnsinn trieb, dann sicherlich der Kopfsch m erz.
    Sie rappelte sich hoch, gegen besseres W is sen. Sie fühlte, wie ihre Knie einknickten, spürte aber nicht m ehr den Sch m e r z, als sie am Boden aufschlug.
    Als sie er n eut die Au g en öffnete, war sie nicht m ehr all e in im Zim m er. Jemand hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie. Ihre W ange brannte. Was direkt vor ihr war, sah sie unsch a rf, verschwom m en. Nur das Entfernte war klar, die offene Tür und der leere Korridor dahinter. Ihre Augen ah m t en ihre Erinnerung nach: Das Ferne war erkennbar, aber das, was hätte nah sein m üssen, die jüngste Vergangenheit verschw a mm i m Nebel, zerfaserte.
    »Chiara!«
    Die Stim m e eines Mannes.
    »Chiara, wir haben keine Zeit. W i r m üssen von hier verschwinden!«
    Sie blinzelte, lö s t e sc h werfällig i h ren Blick von der offenen Tür und versuchte, den Mann anzusehen. Aber er war nur eine Silhouette, je m and, der über sie gebeugt war und an ihr zerrte.
    » W er sind Sie ? « Dabei hätte d i e Frage d o ch lauten müssen: W e r bin ich?
    Er st u t zte, als h ätte sie d en Gedanken tatsäc h lich ausgesprochen. Ohne sein G e sicht zu se h en, spürte sie seine Verwirrung. Und dann seine W ut. »Das hab ich befürchtet. Verdam m t noch m al!«
    Der Boden sackte unter ihr fort, aber dann war da der Mann, der sie hielt, und sie s t and wieder auf ihren Füßen, schwankend, aber nicht m ehr in Gefahr zusam m enzubrechen.
    Hinaus aus der Tür, den hellen Korridor hinunter.
    »Sie erinnern sich an gar nichts, oder ? «
    Sie bewegte die Lippen, und etwas m usste si e wohl gesagt haben, auch w e nn sie selbst sich nicht hören konnte. Der Mann erwiderte etwas, aber auch das drang nicht zu ihr durch.
    Aus der Hellig k eit ne b en ihr schälten sich Körper m it schlingernden Ar m en und ver z err t en Schäde l n, wuchsen m al in die Höhe, m al in die Breite, schienen n ach ihr zu greifen, ohne sie zu berühren. E rst nach einer W eile erkannte Chiara,
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