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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann
Autoren: Anne Freytag
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höchste Koordination und Anstrengung. Frau Hoffmann versuchte, sich an ihre ersten Schritte zu erinnern, und ob das Gefühl dem ähnelte, was sie gerade empfand, doch es gelang ihr nicht sich daran zu erinnern.
    Ihr Spiegelbild zeigte eine Frau Mitte dreißig im karierten Flanellschlafanzug, deren Augenlider geschwollen und von grauen Schatten unterlegt waren. Spröde Lippen und gelblich weiße Flecke zierten müde Haut. Frau Hoffmann war mit Sicherheit nie eine Schönheit gewesen, doch dieser Anblick versetzte sogar ihr einen Schock.
    Das Thermometer piepte drei Mal. Frau Hoffmann zog es unter ihrer bedeckten Zunge hervor und betrachtete die Digitalanzeige. 39,9°. Vertieft in unwichtigen Gedanken saß Frau Hoffmann auf dem kalten Rand ihrer Badewanne. Sie haderte mit sich selbst. Sie führte ein inneres Zerwürfnis darüber, ob es angebracht wäre, der Arbeit fernzubleiben, oder nicht. Jeder normale Mensch hätte sich zum Telefon geschleppt und sich für die nächsten Tage entschuldigt. Doch Frau Hoffmann erschien es verkehrt, sich krank zu melden. Der Fakt, dass sie hohes Fieber hatte, beruhigte zwar ihr Gewissen, doch lange nicht genug, um sich entspannen zu können. Andererseits fühlte sie sich dermaßen schwach und unansehnlich, dass sie sich nicht dazu aufraffen konnte, zur Arbeit zu fahren. Genau genommen fühlte sie sich so sogar jämmerlich, dass sie es schier nicht fertigbrachte, sich vom Wannenrand zu erheben, geschweige denn eine weitere Strecke als vom Bad bis ins Schlafzimmer zurückzulegen. Das, was sie jedoch am meisten davon abzuhalten schien, die Wohnung zu verlassen, war erstaunlicherweise die Tatsache, dass sie aussah, wie sie aussah, nicht etwa das Fieber. Das Verblüffende daran war wiederum, dass es Frau Hoffman so gar nicht ähnlich sah, sich in Eitelkeiten zu verlieren. Frau Hoffmann schenkte ihrem Aussehen für gewöhnlich keinerlei Beachtung. Sie ging zum Friseur, weil sie ihre Haare nun mal nicht daran hindern konnte, zu wachsen, und eine Wimpernzange hätte sie vermutlich für ein chirurgisches Instrument gehalten.
    Und dennoch schien Ihr Aussehen das ausschlaggebende Kriterium zu sein. Denn hätte man es ihr nicht angesehen, wie sie sich fühlte, hätte sie sich sicher zusammengerissen und wäre zur Arbeit gegangen. Vielleicht lag es letzten Endes daran, dass Frau Hoffmann es nicht leiden konnte, wenn man sehen konnte, wie es ihr wirklich ging. Ihrer Ansicht nach war das nämlich privat, also etwas, das niemanden etwas anging. Vielleicht fürchtete sie aber auch nur, dass man die Leere, die in ihr lebte, durch ihre durchsichtig wirkende Haut sehen könnte. Sie selbst sagte sich natürlich, dass es unverantwortlich wäre, zur Arbeit zu gehen, weil sie womöglich ihre Kollegen anstecken könnte. Insgeheim war sie zwar der Meinung, dass die meisten einen schweren Infekt verdient hätten, schuld an deren Leiden wollte sie aber dennoch nicht sein.
     
Kapitel 11  
    Die Luft war trocken und schien ohne Sauerstoff zu sein. Die Heizung tickte leise und unregelmäßig. Frau Hoffmann lag zitternd unter ihrer Decke. Ihre Haut war feucht, ihre Haare klebten strähnig in ihrem Gesicht. Mit weit geöffneten Augen lag sie da und starre an die Decke. Sie wollte sie nicht schließen. Denn jedes Mal, wenn sie das tat, sah sie edles Porzellan und verdorbenes Fleisch.
    Mit dem letzten Quäntchen Kraft schob Frau Hoffmann den Fernseher näher an ihr Sofa. Sie hätte alles getan, um die Bilder nicht mehr ertragen zu müssen. Sie hätte sogar masturbiert. Doch stattdessen spulte sie die Videokassette zurück und schaute ihre Lieblingsserie. An jenem Tag jedoch erschien ihr die Handlung plötzlich konstruiert, unrealistisch und fad. Sie war sich sicher, dass dieser plötzliche Sinneswandel mit ihrer Krankheit zusammenhing. Außerdem beruhigte sie sich, dass Serien nicht zwangsläufig realistisch zu sein hätten. Vielleicht war es vielmehr so, dass sie unrealistisch sein mussten, denn welchen Sinn sollte es auch haben, sich etwas anzusehen, das dem eigenen Leben entsprach.
    Frau Hoffmann lag auf dem Sofa und schaute in die Leere. Das Flimmern des Fernsehers schmerzte in ihren Augen. Das Standbild zuckte über die Mattscheibe. Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken, sich ins Bad zu schleppen, die Familienpackung Schlaftabletten hervorzukramen und doch die feige Variante zu wählen. Sie empfand es als intelligenten Schachzug, sich umzubringen, wenn man ohnehin krank war. Doch dann wurde ihr
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