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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann
Autoren: Anne Freytag
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sicher, dass sie eine schlechte Nachricht erhalten hatte.
    Die Fassungslosigkeit der jungen Frau setzte Frau Hoffmann unerwartet zu. Sie schnürte ihr regelrecht die Luft ab. Diesen leeren Ausdruck hatte Frau Hoffmann schon einmal gesehen. Sie hatte ihn sogar gespürt. Er erinnerte sie dunkel an etwas, das vor langer Zeit geschehen war, an etwas, woran sie unter keinen Umständen erinnert werden wollte.
    Frau Hoffmann empfand es als geschmacklos in einer solchen Situation zu rauchen. Sie drückte die Zigarette aus, schaute den Stummel verächtlich an, dann wandte sich wieder der jungen Frau zu. Sie verspürte den Wunsch, sie in ihre Arme zu schließen. Dieser Wunsch erschreckte sie, denn es passte überhaupt nicht zu Frau Hoffmann, jemanden umarmen zu wollen. Im Gegenteil. Frau Hoffmanns sensomotorische Grenze hatte für gewöhnlich die Ausmaße Russlands. Dieser unumstößliche Fakt stand im absoluten Widerspruch zu der Tatsache, dass Frau Hoffmann der jungen Frau Trost spenden wollte. Und doch war dieser Wunsch fast schon unerträglich stark.
    Frau Hoffmann war nicht immer so gewesen. Sie hatte früher keine Berührungsängste gehabt. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass Frau Hoffmann einmal tatsächlich leidenschaftlich gewesen war. Zumindest fast. Doch seit dieser Zeit war viel geschehen. Ihr Leben hatte sie dazu gezwungen abzubiegen. Es hatte anderes für sie geplant. Und dieser Plan führte sie hier her. Auf diesen Balkon in einem lieblosen Plattenbau, mit ocker-senf-farben Wänden in den Fluren und einem Aufzug, der es verdient hätte, als scheußlichster Aufzug der Welt ins Guinessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden.
    Als Frau Hoffmann an diesem Abend im Bett lag, schien das Gewicht ihrer Gefühle sie noch fester in ihre viel zu weiche Matratze zu drücken. Die Last der Fassungslosigkeit der jungen Frau erinnerte Frau Hoffmann an den Tag in ihrem Leben, der alles unwiderruflich verändert hatte. Sie hatte sich selbst in der jungen Frau gesehen. So muss sie ausgesehen haben, als man es ihr mitgeteilt hatte. Und auch in ihrem Fall war niemand da gewesen, der sie in die Arme hätte schließen können. Sie war allein gewesen. Und sie war es noch. Seit diesem Tag. Diesem Tag im November.
     
Kapitel 10  
    Sie saß mit der jungen Frau an einer reich gedeckten Tafel. Auf wunderschönem Porzellan lag verdorbenes Essen. Fisch, Fleisch, Vorspeisen. Geflockte Milch schwamm zäh in den Kristallkelchen. Auf einem großen Teller lagen Reste eines gigantischen Fleischklumpens, der von einer weißlichen schleimigen Schicht überzogen war. Unzählige Fliegen begutachteten den Klumpen auf der Suche nach den letzten genießbaren Fetzen. Es roch nach einer abartigen Mischung aus ranzigem Käse, Fisch, sauerer Milch und dem beißenden Geruch von fauligem Fleisch. Frau Hoffmann legte tröstend ihre Hand auf die der jungen Frau. Die Tränen der Frau waren gelblich weiß, was Frau Hoffmann zu Beginn irritierte, nach und nach jedoch normal zu sein schien. Die beiden Frauen sprachen kein Wort. Bis auf das Surren der Fleischfliegen war es absolut still. Der entsetzliche Gestank der verwesenden Überreste veranlasste Frau Hoffmann durch den Mund zu atmen. Der Gedanke jedoch, diesen Gestank überhaupt einzuatmen, die Tatsache, dass dieser widerwärtige Geruch genüsslich über ihre Geschmacksknospen glitt, ließ Frau Hoffmann in unregelmäßigen Abständen unvermittelt würgen.
    Frau Hoffmann saß in ihrem Bett. Dieser Gedanke tröstete sie in einem Maß, das sie sich nicht wirklich erklären konnte. Es war schließlich nur ein Traum gewesen. Nichts weiter. Ein Konstrukt ihres Unterbewusstseins. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, so als wäre sie von einem dünnen weichen Film überzogen, was Frau Hoffmann angestrengt zu ignorieren versuchte. Kurzzeitig fragte sie sich, warum sie derartig widerwärtige Dinge träumte, doch nach wenigen Minuten schien der Traum weit genug von ihr entfernt, um wieder einschlafen zu können.
    Wenige Stunden später wurde Frau Hoffmann vom Klingeln ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Sie fühlte sich elend, so als hätte sie die ganze Nacht schwer gearbeitet. Ihre Muskeln waren verspannt, ihre Augen schmerzten. Sie stand auf. Ihre Gelenke zitterten unter ihrem eigenen Gewicht. Auf eine seltsame Art und Weise fühlten sich ihr Körper und ihre Glieder fremd an, so als hätte man ihren Kopf von ihrem eigentlichen Körper entfernt und auf einem fremden montiert. Jeder Schritt erforderte
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