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Caroline und der Bandit

Caroline und der Bandit

Titel: Caroline und der Bandit
Autoren: Linda Lael Miller
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Prolog

    Lincoln, Nebraska
    9. Dezember 1865
    Der Zug
stieß einen
schrillen Pfiff aus. Caroline, die spürte, wie ihre sechsjährige Schwester Lily
auf dem harten, schmutzigen Sitz neben ihr erschauerte, legte schützend einen
Arm um die Schultern des kleinen Mädchens.
    Lilys
braune Augen waren groß und furchtsam. Emmy, die schon sieben war, saß am
Fenster und betrachtete die schneebedeckten Häuser der kleinen Präriestadt,
der sie sich näherten. Ihr Haar schimmerte fast kupfern im schwachen Licht der
Wintersonne; wie Lilys Haar war es strähnig und zerzaust.
    Der
Gedanke, daß sie nichts tun konnte, um die Erscheinung ihrer Schwestern und
ihre eigene ein wenig zu verbessern, ließ Caroline, die Älteste, fast
verzweifeln. Sie besaßen weder eine Haarbürste
noch ein Kleid zum Wechseln – die abgetragenen Schuhe, Mäntel und schlichten
Kattunkleidchen waren ihnen von den Nonnen im St. Mary's in Chicago gegeben
worden.
    Der
Zugbegleiter, ein großer, korpulenter Mann ohne die geringste Spur von Güte im
Gesicht, kam durch den schmalen Gang. »Das ist Lincoln, Nebraska«, brummte er.
»Hier gibt es Farmer und Ladeninhaber und Schmiede.« Vor Caroline, Lily und
Emmy blieb er stehen und musterte sie abschätzend. »Ich nehme an, daß hier nur
Jungen gebraucht werden«, schloß er.
    Caroline zog
Lily noch fester an sich und erwiderte furchtlos den Blick des Mannes. Seine
Nase war groß und rund wie eine Kartoffel, die Haut von geplatzten roten
Äderchen durchzogen. »Mädchen sind genauso gut wie Jungen«, sagte sie mit dem
ganzen Mut, den sie mit ihren acht Jahren aufbringen konnte. »Und sie machen
viel weniger Arbeit.«
    »Steigt aus
und stellt euch mit den anderen auf den Bahnsteig«, befahl der große Mann,
während die ersten Jungen bereits auf die Tür zustürmten. Sie alle waren
unerwünschte Kinder oder Waisen, mit Nummernschildchen an ihren Kleidern und
der Hoffnung, von einer der Familien, die am Bahnhof warteten, adoptiert zu
werden.
    Der Zug kam
ratternd zum Halten, eine Wolke dichten Rauchs hüllte die Fenster ein.
    »Es wird
alles gut«, behauptete Caroline und schaute aufmunternd ihre beiden kleinen
Schwestern an, doch sie wußte, daß es eine Lüge war. Aber was hätte sie ihren
Schwestern sonst sagen sollen? Sie war die Älteste; es war ihre Aufgabe, sich
um ihre Schwestern zu kümmern.
    Dicke
Schneeflocken fingen sich in Lilys und Emmas zerzausten Haaren, als sie den
Zug verließen und auf den Bahnsteig traten.
    Caroline,
die dicht hinter ihren Schwestern stehenblieb, umfaßte aufmunternd ihre
Schultern. Seit Mama sie in Chicago in den Waisenzug nach Westen gesetzt hatte,
flehte Caroline ihren Herrgott an, dafür zu sorgen, daß sie alle drei zusammenblieben,
aber in ihrem Herzen wußte sie, daß Er ihre Gebete nicht erhören würde.
    Was das
betraf, konnte Caroline sich nicht entsinnen, daß Gott schon einmal eines ihrer
Gebete erhört hatte. Manchmal fragte sie sich, warum sie sich überhaupt noch an
ihn wandte.
    Ein großer
Mann mit schwarzem Bart und einem schmuddeligen Wollmantel betrat den
Bahnsteig; seine dunklen Augen verengten sich, als er das Grüppchen Waisenkinder
betrachtete.
    Caroline
seufzte vor Erleichterung, als er zwei Jungen auswählte und ging. Vielleicht
blieb ihnen ja doch noch etwas mehr Zeit zusammen, bevor sie getrennt wurden.
Sie schloß für einen Moment die Augen und kreuzte ihre kalten Finger, die auf
Lilys schmalen Schultern lagen.
    Eine dicke
Frau in einem abgetragenen Kattunkleid und einem wollenen Umhang stapfte
schnaufend die Stufen zur Plattform hinauf. Ihre Wangen waren rund und rot,
aber in ihrem Blick lag keine Wärme.
    »Ich nehme
dich«, sagte sie, auf Caroline zeigend.
    Caroline
schluckte. Nein, flehte sie stumm, ich kann Lily und Emma nicht
verlassen. Sie versuchte es ein letztes Mal. Bitte, lieber Gott, sie
sind doch noch so klein, und sie brauchen mich so sehr!
    In
Erinnerung an die Manieren, die ihre Großmutter sie gelehrt hatte, bevor sie
vor einem Jahr gestorben war, knickste sie vor der dicken Frau. »Madam, bitte«,
sagte sie flehend, »das sind meine Schwestern Emma und Lily, beide gute und
starke Mädchen, groß genug, um zu kochen und zu putzen ...«
    Die Frau
schüttelte den Kopf. »Nur du«, sagte sie hart.
    Jetzt
konnte Caroline die Tränen nicht mehr zurückhalten; sie rollten ungehindert
über ihre kalten Wangen. Sie hatte gehofft, als letzte ausgesucht zu werden,
wenn sie schon von ihren Schwestern getrennt werden sollte, weil sie
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