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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann
Autoren: Anne Freytag
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hatte. Rein objektiv betrachtet war es vollkommen lächerlich, welches Chaos diese Begebenheit in Frau Hoffmann auslöste. Obgleich Frau Hoffmann sich diese Unverhältnismäßigkeit durch rationales Argumentieren auszureden versuchte, änderte selbst der logischste Ansatz nichts daran, wie sie sich fühlte.
    Schwer atmend stolperte Frau Hoffmann den Flur entlang. Sie stieß hastig die Türe zu ihrem Büro auf, und erblickte zu ihrem Entsetzen Herrn Walter, ihren direkten Vorgesetzten, der mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch saß. Es wirkte ein wenig so, als habe er sich diese Pose von einem seiner Filmhelden abgeguckt. Wäre es nicht dermaßen unpassend gewesen, hätte Frau Hoffmann tatsächlich über das lächerliche Betragen ihres Vorgesetzten schmunzeln können. Er räusperte sich, schaute pikiert auf die Uhr und musterte Frau Hoffmann von oben bis unten.
    Er trug seinen dunkelblauen Anzug wie ein Offizier seine Uniform. Er brauchte diesen Anzug. Erst dieser machte einen Geschäftsmann aus ihm. Manchmal trug er ihn sogar, wenn er zu Hause war. Seine Frau hatte immer so einen Blick, wenn er ihn trug. Er mochte diesen Blick. Immer, wenn sie ihn so ansah, fühlte er sich männlich. Herr Walter hatte viele Anzüge, doch den blauen mochte er am liebsten. Die mächtigsten Männer trugen dunkelblaue Anzüge mit roten Krawatten. Deswegen schätzte er diesen Anzug. Denn auch, wenn Herr Walter nicht wirklich mächtig war, so gab ihm sein Anzug das Gefühl, als wäre er es doch.
    Die rote Krawatte hatte er wie jeden Tag zu seinem straffen Windsorknoten gebunden. Sie betonte sein leichtes Doppelkinn und ließ seinen Hals unvorteilhaft breit erscheinen. Seine hohe Stirn lag inszeniert in Falten, seine buschigen Augenbrauen hingen wie kleine haarige Dächer über seinen schmalen Augen. In seinem Gesichtsausdruck war etwas Abschätziges zu sehen, so als wäre sie ein kleines Bröckchen Dreck auf einem ansonsten tadellos reinen Fußboden. Verunsichert ging Frau Hoffmann an ihm vorbei und setzte sich an ihren Schreibtisch. Den Mantel und den Schal behielt sie an.
    Es schien so, als würde Herr Walter auf eine Art Entschuldigung warten, oder zumindest darauf, dass Frau Hoffmann ihr unmögliches Verhalten plausibel erklärte. Als weder das eine noch das andere einzutreten schien, stützte er sich mit dem Ellenbogen auf der Tischplatte ab und räusperte sich erneut. Nach weiteren Sekunden beklemmenden Schweigens sagte er dann schließlich: „Schön, dass Sie auch noch rein schauen...“ Innerlich kochte Frau Hoffmann, doch anstatt etwas zu sagen oder ihn gar zurechtzuweisen, starrte sie eingeschüchtert in ihren Schoß. „Ich weiß ja, dass Sie nicht die Kommunikativste sind, Frau Hoffmann, aber genau in diesem Augenblick verstreicht ein weiterer passender Moment für eine Entschuldigung oder Erklärung...“ Er versuchte nicht einmal seinen arroganten Tonfall zu kaschieren, im Gegenteil, es war offensichtlich, dass er seine übergeordnete Stellung in vollen Zügen genoss.
    Frau Hoffmann gingen viele Dinge gleichzeitig durch den Kopf, so beispielsweise der Gedanke, einfach aufzustehen und demonstrativ den Raum zu verlassen, oder aber Herrn Walter anzuschreien, was er sich eigentlich einbildete, so mit ihr zu reden. Was sie dann jedoch sagte, hatte nichts mit jenen Gedanken zu tun. Und in dem Augenblick, als sie dann sagte, was sie sagte, hasste sie sich selbst dafür sich dermaßen zu verraten.
    „Ich habe meinen Wecker überhört.“
    „So so... Sie haben also ihren Wecker überhört“, wiederholte er sie mokierend.
    „Es wird nicht wieder vorkommen...“, entgegnete Frau Hoffmann kleinlaut.
    „Na, das wollen wir hoffen...“ Der Klang seiner Stimme verriet, dass ihn diese Situation unbändig befriedigte. Er stand auf. „Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen gerne Ihre Stelle hätten?“ Frau Hoffmann schüttelte den Kopf ohne aufzuschauen. Im Augenwinkel sah sie Herrn Walter geschäftig durch ihr Büro stolzieren. „Es sind viele, Frau Hoffmann...“ Frau Hoffmann nickte. „Sogar Sie müssten mitbekommen haben, dass wir uns in einer schweren Krise befinden.“ Und wieder nickte sie wie ein artiges Schulkind. „Arbeitsplätze sind nicht mehr sicher. Die Zeiten, in denen man Arbeitnehmern jeden Wunsch von den Augen ablesen musste, sind vorbei. Es kann jeden treffen. Wirklich jeden. Verstehen Sie das?“
    „Ja, natürlich.“ Frau Hoffmanns Stimme war ein kleines, schüchternes
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