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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann
Autoren: Anne Freytag
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ihrem Leben ein Ende zu machen, fragte sie sich, ob sie es womöglich bereuen könnte nicht mehr am Leben zu sein. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie das gar nicht beurteilen konnte, weil sie die meisten Dinge, die die meisten Menschen als normal empfanden, nicht getan hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine Zigarette geraucht. Noch nie hatte sie eine weite Reise unternommen. Noch nie war sie mit Freunden auf einer Party gewesen. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nur mit zwei Männern geschlafen, wovon der eine nicht nur nicht erwähnenswert sondern vollkommen bedeutungslos gewesen war. Außerdem lag das inzwischen schon viele Jahre zurück. Sie hatte noch nie masturbiert, weil man in ihrer Familie der Meinung war, dass man so etwas Triebgesteuertes einfach nicht tut. Sie hatte nie einen schönen Sternenhimmel gesehen und noch nie im Meer gebadet.
    Sie nahm ihren Fuß langsam wieder von der Brüstung. Sie wollte zwar sterben, doch sie konnte es noch nicht heute tun. So ein impulsives Verhalten sah ihr auch gar nicht ähnlich. Das mit der Reise und den Freunden und dem Sternenhimmel würde wohl nichts mehr werden. Und an der Tatsache, dass sie nur mit zwei Männern geschlafen hatte, konnte sie auf die Schnelle auch nichts ändern. Doch sie konnte noch anfangen zu rauchen. Und sie hatte durchaus noch die Möglichkeit zu masturbieren, bevor sie sich vom Balkon stürzte.
    An diesem Abend machte Frau Hoffmann etwas, das sie noch nie zuvor in ihrem Leben getan hatte. Sie ging ohne Zähne zu putzen ins Bett. Sie benutzte nicht einmal ihre antibakterielle Mundspülung. Das war genug rebellisches Verhalten für den Anfang. Die Sache mit dem Masturbieren verschob sie auf den nächsten Tag.
    Als sie im Bett lag schaute sie ein letztes Mal auf ihren Wecker. Seit über sieben Jahren war sie nicht mehr so spät ins Bett gegangen. Es war viertel nach elf.
     
Kapitel 4  
    Den gesamten folgenden Tag war Frau Hoffmann ungewohnt beschwingt. Nicht einmal der leicht faulige Geschmack in ihrem Mund konnte ihr die Laune verderben. Sie vollführte ihr morgendliches Ritual bis ins kleinste Detail, dann verließ sie ihre Wohnung um sieben Uhr achtunddreißig. Sechs Minuten später stieg sie in die U-Bahn. Um sie herum stauten sich Unmengen an Menschen in Anzügen und Kostümen. Lederaktentaschen, Laptopkoffer, Kinder mit immensen Rucksäcken.
    Ein Mann erregte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders. Er sah gut aus, jedoch nicht so gut, dass man es ihm hätte anmerken können, dass er wusste, dass er gut aussah. Dafür war seine Nase zu groß und seine Stirn zu kurz. Dennoch hatte er etwas ungemein Anziehendes an sich.
    Als es an der Zeit war auszusteigen, wählte Frau Hoffmann den längeren Weg, um den Mann mit der großen Nase aus der Nähe betrachten zu können, obwohl dies bedeutete, dass sie einen schwitzenden und leicht übel riechenden Mann passieren musste. Ein derartiges Verhalten passte eigentlich überhaupt nicht zu ihr, dennoch tat sie es. Sie drückte sich an all den Fahrgästen, die im Zwischengang standen vorbei und schob sich neben ihn. Als der Zug langsamer wurde, presste sie sich an ihm vorbei in Richtung der Türen. Sie spürte seine Wärme und roch sein After Shave. Ihre Brüste rieben über seinen Brustkorb. Und zu ihrem eigenen Erstaunen gefiel ihr dieses Gefühl. Der Zug hielt an, sie schaute ihm kurz in die Augen, er erwiderte ihren Blick, dann stieg sie aus und ging zur Arbeit.
    Sie saß auf der Toilette und schaute an sich hinunter. Seit sie beschlossen hatte zu sterben, fühlte sie sich anders. Vielleicht fühlte sie sich auch einfach zum ersten Mal nach langer Zeit wieder lebendig. Womöglich lag es aber auch daran, dass ihr Körper gegen sein ihm bald bevorstehendes Ende zu rebellieren versuchte. Sie schloss ihre Augen und dachte an die flüchtige Berührung in der U-Bahn. Es ging in ihren Gedanken weniger um den Mann, den sie berührt hatte, als um die Tatsache, dass es ihr gefallen hatte, ihn zu spüren.
    Acht Stunden später verließen die ersten ihrer Kollegen ihre Büros. Frau Hoffmann hörte, wie sie sich von einander verabschiedeten. Dann wurde es still. Und in eben diesem Moment beschloss auch sie, an diesem Abend früher zu gehen. Sie griff nach ihrem Mantel und der Tasche nachdem sie ihren PC und die Schreibtischlampe ausgeschaltet hatte und verließ das Zimmer. Auf dem Weg zur U-Bahn machte sie einen kleinen aber nicht weniger wichtigen Umweg. Sie kaufte sich eine Schachtel Zigaretten. Und
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