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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann
Autoren: Anne Freytag
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singend auf seinem Sportgerät saß. In eben jenem Augenblick wurde ihr klar, dass es schon sehr lange her war, dass sie einen Mann nackt gesehen hatte. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Mann seines Alters unbekleidet gesehen.
    Dem älteren Herren war anzusehen, dass ihm das, was er machte, Freude bereitete. In seinem Gesicht war durchweg der Anflug eines Lächelns zu sehen. Diese Unbekümmertheit imponierte Frau Hoffmann, und vielleicht steckte sie sie sogar ein wenig an.
     
Kapitel 6  
    Es war zehn nach zehn, und Frau Hoffmann saß noch immer auf dem Balkon und beobachtete andere Menschen dabei zu leben. Der nackte Herr war gerade von seinem Trainingsgerät abgestiegen und verließ das Zimmer. Kurze Zeit später wurde auch seine Wohnung dunkel, also wanderte sie weiter. Ein paar Wohnungen weiter links im selben Stockwerk saß ein Mann vor dem Fernseher. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, was es Frau Hoffmann ermöglichte zu sehen, was er sich ansah. Es war ein Pornofilm, ohne jedwede Handlung. Ein einzelner Mann war mit drei großbusigen Frauen zu Gange, alle hatten sie schmerzverzerrte Gesichter. Frau Hoffmann versuchte, in dem, was sie da sah, etwas Erotisches zu erkennen, konnte aber nichts entdecken, obwohl sie sich wirklich bemühte.
    Zwei Stockwerke tiefer fand sie dann ein Paar, das gelangweilt vor dem Fernseher saß. Keiner der beiden regte sich. Fast eine viertel Stunde beobachtete sie starr deren Gesichter, doch es schien, als wären sie ausgestopft. Es wurde nicht ein einziges Mal gelacht oder die Stirn gerunzelt.
    Frau Hoffmann vermochte dieser Eintönigkeit nichts abzugewinnen. Vielleicht lag es auch an der Tatsache, dass diese Eintönigkeit sie insgeheim an ihr eigenes tristes Dasein erinnerte, was wiederum Grund genug war, das Fernglas beiseite zu legen.
    Für einen kurzen Augenblick dachte sie an den nackten Herren auf seinem Trainingsgerät. Und vielleicht entwischte ihr deswegen ein flüchtiges Lächeln, weil sein Leben ihrem in keiner Weise zu gleichen schien.
    Frau Hoffmann saß zufrieden auf ihrem Balkon. Es hatte ihr Spaß gemacht, ihre Nachbarn heimlich zu beobachten. Bedenkt man die Tatsache, dass sie zu der eher bemitleidenswerten Sorte Mensch zählte, der es nicht häufig vergönnt war, Gefühle wie Spaß zu empfinden, war das eine außergewöhnliche Erfahrung gewesen.
    Zwanzig Minuten später lag Frau Hoffmann in ihrem Bett. Sie glitt genüsslich mit ihrer Zunge über ihre sauberen Zähne. Sie liebte dieses glatte Gefühl. Frau Hoffmann löschte das Licht und legte sich auf die Seite. Für die Masturbation fehlte ihr an jenem Abend nicht nur die Energie, sondern vor allem die Inspiration. Denn auch wenn Frau Hoffmann sich im tiefsten Inneren dunkel daran erinnerte, dass sie nicht immer so gewesen war, so war dennoch nicht zu leugnen, dass Frau Hoffmann weiß Gott seit langer Zeit keine leidenschaftliche Frau mehr war. Alles andere als das.
    Mit diesem doch eher ernüchternden Gedanken im Kopf schlief sie eine Stunde später ein.
     
Kapitel 7  
    Am nächsten Morgen passierte etwas Seltsames. Frau Hoffmann öffnete die Augen. Durch ihr Schlafzimmer glitzerten vereinzelte Sonnenstrahlen. Als sie sich zu ihrem Nachttisch drehte und den Wecker näher an ihr Gesicht führte, um die Uhrzeit ablesen zu können, setzte ihr Herz für einen Schlag aus. Es war acht Uhr neununddreißig.
    Wie gelähmt starrte sie auf die Anzeige der Digitaluhr. Es war schlichtweg unmöglich, dass sie verschlafen hatte. Und es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie vergessen hatte, den Wecker zu stellen, weil der Wecker jeden Tag um dieselbe Uhrzeit klingelte, ohne dass man ihn am Abend vorher selbst stellen musste. Das bedeutete, dass der Wecker mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geklingelt hatte. Das wiederum implizierte jedoch unweigerlich, dass Frau Hoffmann den Wecker überhört haben musste, was sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte.
    Eine Weile schaute sie ratlos durchs Zimmer. Für den Bruchteil einer Sekunde spielte sie mit dem wahnwitzigen Gedanken im Büro anzurufen und sich kurzerhand krank zu melden, was jedoch ihr unerschöpfliches Pflichtbewusstsein nicht zuließ. Also stieg sie aus dem Bett und machte sich fertig.
    Zweiundzwanzig Minuten später saß sie in der U-Bahn. In ihrem Magen rumorte das schlechte Gewissen. Sie fühlte sich ungeheuer klein und auf eine seltsame Art schuldig, die in keiner Weise im Verhältnis zu dem Vergehen stand, das sie begangen
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