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Renate Hoffmann

Renate Hoffmann

Titel: Renate Hoffmann
Autoren: Anne Freytag
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Bad. Nachdem sie ihren Schlafanzug ausgezogen hatte, faltete sie ihn sorgfältig und legte ihn auf die Heizung. Das machte sie immer so. Mit dem Rücken zum Spiegel schlüpfte sie in ihre Unterwäsche, die mit Wäsche nicht viel zu tun hatte, dann ging sie ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank und zog eines der sechs Kostüme heraus. Sie alle waren dunkelgrau. Wenn man es genau nimmt, sahen alle vollkommen gleich aus, weswegen ihre Kollegen manchmal boshaft munkelten, es sie immer dasselbe. Das stimmte natürlich nicht. Frau Hoffmann war eine überaus reinliche Frau. Nie im Leben hätte sie dasselbe Kostüm an zwei darauf folgenden Tagen getragen.
    An dieser Stelle schaute sie auf die Uhr, weil sie es so gewöhnt war. Doch eigentlich war das nicht nötig, denn sie wusste ganz genau, wie spät es war. Sie bückte sich nach ihrer Handtasche, sah noch einmal in den Spiegel im Flur, was sie viel Überwindung kostete, dann zog sie ihren Mantel und den Schal vom Bügel und verließ die Wohnung.
    In der U-Bahn drängten sich fremde Körper an ihr vorbei. Diese unfreiwillige Nähe war für Frau Hoffmann ein tiefer Eingriff in ihre Privatsphäre. Mehr noch, dieser Kontakt kam körperlichen Schmerzen gleich. Die Mischung aus den verschiedensten Gerüchen und Geräuschen verstärkten das dumpfe Hämmern in ihrem Kopf noch zusätzlich. Es war, als würde jemand von innen gegen ihre Schläfen trommeln. In diesem Augenblick fragte sie sich, warum sie sich nicht einfach ein Auto gekauft hatte. Frau Hoffmann hätte sich ein Auto durchaus leisten können, doch dann stieg jedes Mal die Vernunft in ihr hoch, dass sie schließlich nur drei Stationen zu ihrer Arbeit zu fahren hatte und dort unmöglich einen Parkplatz finden würde. Abgesehen davon hatte sie Angst davor Auto zu fahren. Das lag weniger daran, dass sie sich vor dem Akt des Fahrens fürchtete, als vielmehr am dichten Verkehr, der sie unheimlich nervös machte.
    Nur noch eine Station. Sie war immer erleichtert, wenn sie daran dachte, bald wieder aussteigen zu können. Langsam drückte sie sich an den anderen Fahrgästen vorbei. Ihre Brüste rieben gegen den Rücken eines fremden Mannes. Bei dieser Berührung lief es ihr eisig über den Rücken. Es war jedoch kein schönes Gefühl. Im Gegenteil.
    Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Man braucht wohl nicht zusätzlich zu erwähnen, dass Frau Hoffmann unvorhergesehene Situationen aufs Abgrundtiefste verabscheute. Der Zug wurde langsamer, und das nicht etwa weil er sich der rettenden Station näherte, nein, denn diese war noch achtzehn Sekunden entfernt – Frau Hoffmann zählte immer die Sekunden zwischen den verschiedenen Stationen – nein, der Zug stoppte in einem Tunnel. Noch eine Sache, die Frau Hoffmann nicht leiden konnte. Die beklemmende Dunkelheit und die aufreibende Ungewissheit, wie lange er dort verweilen würde, ließen ihr rechtes Augenlid nervös zucken.
    Nervös schaute sie auf die Uhr. In sieben Jahren war Frau Hoffmann nicht ein einziges Mal zu spät bei der Arbeit erschienen. Es ging ihr dabei weniger um die unwahrscheinliche Möglichkeit Ärger zu bekommen, als um ihre Prinzipien. Ein geregeltes Leben ist unweigerlich strikten Regeln unterworfen. Punkt. So war es auch in Frau Hoffmanns Leben. Und auch in ihrem Beruf. Sie war Buchhalterin in einem großen Unternehmen. Manche Leute schätzen diese Tätigkeit gering, doch sie waren eben unwissend. Man konnte nicht einfach Geld von der Soll-Seite buchen, ohne denselben Betrag auf einem anderen Konto im Haben zu buchen. Das Prinzip mag einfach erscheinen, doch die Denkweise zu verinnerlichen ist um ein Vielfaches schwieriger. Frau Hoffmann wusste das. Denn Frau Hoffmann war eine kluge Frau, auch wenn viele ihr nur wenig Intelligenz zuschrieben.
    Als sie eine Stunde später mit zerzaustem Haar und kleinen Schweißperlen auf der Stirn aus dem Aufzug stieg, war der Kopfschmerz fast schon unerträglich geworden. Sie ging ohne Umwege in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich. Niemand hatte ihr zu spätes Erscheinen bemerkt. Das lag vielleicht daran, dass Frau Hoffmann bei der Arbeit keine Freunde hatte. Frau Brunner aus dem Nachbarbüro telefonierte ständig mit ihren diversen Freundinnen und lachte laut durch die gesamte Etage. Meistens sagte sich Frau Hoffmann im Stillen, dass dies kein professionelles Verhalten war, doch wenn sie ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, was sie nicht war, war sie enttäuscht darüber, dass es niemanden gab, den sie hätte anrufen
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