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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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leiden kann, Gefallen daran fand, bei Einbruch der Nacht ein Weilchen im Finstern zu sitzen. Sie machte kein Licht, und eines Tages gestand sie mir schließlich, den Kopf zur Seite, in Richtung Wand gedreht – die letzte Ausweichmöglichkeit, die ihr fortan bleiben würde –, dass Gott die Nachzügler vielleicht im Halbdunkel nicht so gut erkennen würde. »Und tagsüber?«, fragte ich, um ihr die Absurdität ihrer Argumentation vor Augen zu führen. Ihre Antwort: »Tagsüber hat Gott zu viel zu schauen, Landschaften und Leute, die kreuz und quer laufen – weshalb sollte er mich, die ich so klein bin, die ich so stark geschrumpft bin, da bemerken?« Und hoffnungsvoll fügte sie hinzu: »Ich bin doch geschrumpft, findest du etwa nicht?«
    Seit einiger Zeit hat sich das gewandelt. Eines schönen Abends gelangte sie zu dem Schluss, dass sie ein Stern sei und wie jeder andere Stern leuchte. Ihr Stern sei, so erklärte sie mir, auch lang nach dem Verlust der Jugend noch ein ­unvermindert markantes Erkennungszeichen, das weiterhin strahlend hell sei und dessen Spur bis zu ebenjener Jugend zurückreiche. Daher sei es doch besser, das Licht einzuschalten, sobald es Abend werde. Denn sonst werde man als Stern selbstverständlich gerade im Dunkeln aufgespürt.

W enn die Menschen alt sind, mögen sie kein Weihnachten. Zunächst einmal, weil sie sich nicht stark genug fühlen, um sich der jubelnden Menge derer anzuschließen, die noch voll bei Kräften sind. Das deprimiert sie. Dann aber auch, weil sie nicht mehr aus dem Haus können, um durch die Läden zu touren, und weil sie mit ihrem erfahrenen Blick den ganzen Zirkus um die Geschenke ohne alle ­Illusionen betrachten. Für dich als autonom lebenden Erwachsenen mögen die Geschenkbänder, die du kräuselst, die Energien, die du in letzter Minute in einem Geschäft entfaltest, das eigens deiner Saumseligkeit wegen am 23. Dezember abends noch geöffnet hat, vielleicht eine lästige Pflicht sein. Doch dein mangelnder Elan ist nichts im Vergleich zu der abgrundtiefen Niedergeschlagenheit, die den alten Menschen Ende Dezember überwältigt.
    In einem Jahr stürzt meine Mutter in den Tagen vor Weihnachten drei Mal binnen einer einzigen Woche. Das eine Mal rutscht sie aus dem Bett. Sie bleibt zwei Stunden am ­Boden liegen, in der Hoffnung, dass einer anruft. Denn sie ist in dem Augenblick nicht mehr in der Lage, sich unsere Telefonnummern ins Gedächtnis zu rufen, ja, sie kommt nicht einmal mehr darauf, wie man das Telefon überhaupt bedient, wie diese Apparate funktionieren. Ich rufe an und vernehme ein hauchdünnes Stimmchen am anderen Ende der Leitung: »Nun, also ich liege hier unten auf dem Boden.« Ich eile zu ihr. Und finde sie im Dunkeln, neben ihrem Bett, den Kopf auf dem Parkett. Ich stehend, sie auf die Erde hingestreckt. Ich kauere mich neben sie. »Bloß kein unnötiges Aufhebens«, erklärt sie. Sie spielt die Angelegenheit herunter, will nicht unsere ganzen Festtagspläne zunichtemachen, hat keine Lust, in der Woche, in der alle Welt glücklich ist, ins Krankenhaus einzurücken, sie will uns nicht um die Weihnachtszeit bringen, die ganz und gar den Kindern gehört. »Mir tut nichts weh«, erklärt sie vorsorglich. Doch als ich die Arme nach ihr ausstrecke, verkrampft sie sich sichtlich. Ich muss mich neben sie aufs Parkett legen, muss es ihr gleichtun und dieselbe Position wie sie einnehmen, um nachzuvollziehen, wie das ist; und ihr dann demonstrieren, wie ich es in dieser Lage anstelle, wie ich mich zunächst auf die Seite rolle, mich von dort auf alle viere hochziehe und dann aus dem Vierfüßlerstand in die Hocke gehe, um mich schließlich an der Bettkante festzuhalten und mich aus eigener Kraft aufzurichten, bis ich, ohne mich irgendwo anzustoßen, zum Stehen komme.
    Doch allein sich auf dem Boden herumzudrehen ist für sie schon zu anstrengend. Zu guter Letzt akzeptiert sie, dass ich sie aufhebe und zurück ins Bett trage.
    Am Tag darauf rutscht sie erneut aus. Diesmal gleitet sie Maria, der Hausmeisterin des Gebäudes, die heraufgekommen ist, um ihr bei der Morgentoilette behilflich zu sein, aus den Händen. Maria schafft es nicht, den seifenglitschenden Körper festzuhalten. Und am nachfolgenden Tag geht das Spiel von vorne los, als sie aus ihrem Sessel wegrutscht.
    So harmlos diese »Ausrutscher« auch scheinen mögen – für die Ärzte sind sie ein vertrautes Phänomen. Und sie verheißen nichts Gutes. Der Beweis dafür ist für mich, dass meine
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