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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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findest du nicht?«
    »Hast du noch mehr solcher großartigen Sätze auf Lager?«, fragte sie.
    Ich hatte den Wagen kurz vor dem Grab zum Stehen gebracht. Weiter konnten wir nicht fahren. Der baumgesäumte Weg, der nun folgte, war zu schmal. So als wolle man den ­Betreffenden auf diese Weise mitteilen, dass sie dort hinten allein sein würden. »Geh du mal schauen«, hatte meine Mutter mich angewiesen. Vermutlich wollte sie überhaupt nicht aussteigen, sondern einfach sitzen bleiben, und ich sollte ihr das Ganze beschreiben. Ich selbst war ausgestiegen. Es war Morgen, folglich ringsum Bienen, Schmetterlinge, Vögel, kurz, die flirrende Energie des Sommers und die Luft erfüllt von sinnlosen Verheißungen. Ich hatte mich vorgewagt, hatte das Grab inspiziert und den auf dem Stein eingravierten Namen gelesen, den Namen von der Freundin meiner Mutter. Und der Stein lastete gleichsam wie Blei auf meiner Seele. Mein Gott, wie bedeutungsschwanger das war, ein ­toter Leib und ein Name. »Und?«, fragte meine Mutter mit ängstlicher Stimme. Darauf ich: »Es ist da.« Und von ihr nur dies eine, gebieterische Wort: »Zeig!« Ich stand jetzt zu ihr gewandt, und sie besah meine Hände. Vergebens: Ich konnte ihr nichts herüberbringen. Dort hinten, da lag ihre Freundin, die umwerfend Schöne, die Todschicke, die personi­fizierte French Riviera (wie meine Mutter zu sagen pflegte). Die Freundin, die sie jeden Sommer traf und die erklärte: »Wir werden niemals sterben. Das ist ja todlangweilig, ­ster ben!« Die mit achtzig noch blutjunge Männer verführte, einzig und allein, weil sie selbst die kleinsten Alltagsmo mente noch mit etwas Vergnüglichem zu füllen verstand. Die sagte: »Wir zwei sind doch wirklich zum Piepen« und sie so zur Verbündeten erklärte, ihre Schwester, die jünger war als sie – und ihre Freundin: meine Mutter. Sie waren vereint durch ihren Humor. Mit einem gewissen Humor kann man sich nämlich durchaus eine Zeit lang für unsterblich halten.
    Oben auf dem Hügel drüben die Villen von Guerrevieille. Die unersetzliche Freundin hatte über zwanzig Jahre lang in einem dieser Häuser gelebt. Ein privates Anwesen, in dem man sich dank der privilegierten Lage leicht gefeit wähnen konnte gegen die Unbilden des Schicksals, die den gemeinen Sterblichen beschieden waren. Die steinerne Terrasse lag hoch oben über der Bucht. Kapitän Cousteau kochte Tee für uns. Dazu die bildschönen, barfüßigen Männer im lehmgrauen Gewand. Ein Haus, das nach ihrem Tod verkauft worden war. Schützt Vornehmheit also vor gar nichts?
    Ich hatte meiner Mutter zum dritten Mal eindringlich ans Herz gelegt, die paar wenigen Schritte zu tun, derer es bedurfte, um ihrer Freundin ihre Aufwartung zu machen. Sie hatte sich kategorisch geweigert. »Nein, hier bleibe ich nicht.«
    In aller Stille der Verstorbenen zu gedenken ist ein Luxus, der denen vorbehalten ist, die körperlich voll auf der Höhe sind.

I hre Miene ist vergnügt, als sie mich vom Bett aus mit folgenden Worten begrüßt: »Im Grunde genommen bin ich überhaupt nicht krank.« Sie hat darüber mit Maria gesprochen, die morgens gegen halb zehn Uhr erscheint, um ihr ihren Tee zuzubereiten. Sie hat darüber mit Leila gesprochen, die gegen elf kommt, um sie aus dem Bett zu holen, ins Bad zu verfrachten und ihr bei der Morgentoilette zu helfen. Danach hat sie erneut mit Maria darüber gesprochen, die am Mittag wiederkommt, um für sie zu kochen. Anschließend mit Caroline, der Krankengymnastin, die sie zwingt, die Füße in einem vorgegebenen Rhythmus zu heben. Und dann noch einmal mit Leila, die sich zum Nachmittagstee einfindet. Des Weiteren hat sie mit einem Mitarbeiter der allgemeinen staatlichen Krankenversicherung darüber gesprochen, der an diesem Tag angerufen hat. »Moment mal, Mama … hast du den Leuten von der Sécurité sociale etwa gesagt, dass du gar nicht krank bist?« Sie kann es schlicht nicht fassen, dass mir das Kopfzerbrechen bereitet. »Was ist denn daran so schlimm?«, verteidigt sie sich mit unschuldig erhobenen Händen. »Ist das vielleicht keine gute Nachricht, dass mir nichts fehlt?« Ich setze ihr auseinander, dass mein Bruder und ich mit allen Mitteln darum kämpfen, dass die staatliche Krankenversicherung ihre Pflegekosten voll übernimmt und dass wir dieser gegenüber geltend machen, in welch hohem Maße sie auf Hilfe angewiesen ist, körperlich genauso wie seelisch. Ich, die ich mich ihr gegenüber für gewöhnlich eher verblümt ausdrücke,
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