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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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Unbekannte, die da zu ihr kommen. Unbekannte, damit will ich sagen: Menschen, die sie nicht mehr kennen wird. Zum einen werden die beiden sie ein Stück weit vergessen, zum anderen wird sie selbst weit, weit weg sein. Sie hat nichts, was sie an sie weiterreichen könnte, ich meine, keine moralischen Grundsätze, oder sagen wir, nichts, was sich mit Worten vermitteln ließe. Ihr genügt es zu wissen, dass diese Jungen bereits eine ungeheuer lehrreiche Erfahrung machen, indem sie miterleben, dass man hier, in dieser Familie, einen alten Menschen nicht im Stich lässt. Die Wachsamkeit, mit der sie, gefangen in ihren eigenen vier Wänden, verfolgt, wie die Kinder wachsen und gedeihen, lässt für mich erahnen, dass sie für sie die Natur verkörpern. Im Winter sind sie schneeweiß im Gesicht, im Sommer das blühende Leben selbst. Sie hat keine Bäume mehr, die sie bewundern kann, wenn man einmal von den – von ihr über ­alles geliebten – Kirschzweigen absieht, die ich in einer Vase gegenüber von ihrem Bett drapiere. Diejenigen, die in der Lage sind, das Haus zu verlassen, vermögen die Bedeutung der Knospen nicht zu ermessen. Sie schon, ja, sie sehnt den Frühling herbei, der für sie das Ende der Heizperiode bedeutet, die leichtere Bluse. Aber das allein kann es nicht sein. Was auch erklärt, warum sie so sehr für Blumen schwärmt. Warum sie so beharrlich ihre Anweisungen erteilt, auf dass man das Wasser wechseln möge, die Stängel anschneiden. Gelbe Blumen möchte sie haben, und zwar aus gutem Grund: Sie ersetzen ihr die Sonne. Und diese beiden Jungen dort, denen man förmlich zusehen kann, wie sie größer werden, sind die andere Sorte Pflanzen. Wie groß ihre Füße sind. »Was tragt ihr denn für eine Schuhnummer?«, fragt sie verdutzt. Sie nennen ihr ihre Größe, und sie sagt nur: »Oh, là, là …« Es fehlt nicht viel, und sie bekäme es mit der Angst zu tun beim Anblick dieser fleischfressenden Pflanzen.
    Der Baum, den du in deinem Garten pflanzt. Für dich wird es nur ein Ring aus Stützpfählen sein, dicht an dicht wie die Ruder einer Galeere. Doch für andere wird die Akazie ­eines Tages hoch in den Himmel emporragen, wo du dann bereits sein wirst, und sie wird deinen Nachfahren Schatten spenden, während du auf niemanden mehr deinen Schatten wirfst. Du wirst nur noch Licht sein für die, die sich an dich erinnern. Eines schönen Sommerabends wird einer deiner Abkömmlinge dort unter diesem Baum sitzen und seinen süßen Duft einatmen. Dieser Enkel, dieser Großneffe zweiten Grades, diese Ururgroßnichte, wer auch immer es sein mag, wird nicht mehr an seine Enttäuschungen denken. Im Gegenteil, er wird sich wohlig umfangen fühlen von einer unerklärlichen Fülle, dort unter dem nächtlich-stillen Baum. Und er wird sich fragen: »Von woher kommt nur all diese Liebe auf mich hernieder?«
    Das ist die Bestimmung meiner Mutter, auch wenn sie keinen Garten hat.
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