Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
Vom Netzwerk:
gewappnet, auf dem Kopf trage ich eine Art Melone. Doch sobald es geht, lasse ich meine Kollegen alleine. Ich rase Hals über Kopf in die Rehaklinik. Schon im Foyer fällt meine Aufmachung aus dem Rahmen, und oben auf der Station ist sie dann schlicht deplatziert. Mein Fehlgriff besteht darin, dass meine Kleidung alles andere als zweckmäßig ist. Nicht, dass ich irgendwelche Arbeiten verrichten müsste, aber bei einem Besuch hier gilt es stets, gewisse Formen zu beachten, eine respektvolle, würdige Haltung zu wahren. Eh man das Zimmer betritt, muss man sich die Hände desinfizieren und sich einen weißen Kittel überziehen. Dreifache Überraschung meiner Mutter: zunächst, dass ich überhaupt gekommen bin trotz meines eigentlichen Lebens. Dann der absurd wirkende Kittel. Und schließlich meine Garderobe darunter. Sie registriert, dass sie schwarz ist, auf groteske Weise stylish. Wagt aber nicht, auch nur die geringste Bemerkung darüber zu verlieren, denn es ist ja so nett, dass ich mich überhaupt herbemüht habe. Sie erkundigt sich bei mir nach den neuesten Trends, will wissen, ob ich schöne Kreationen gesehen habe. Ich beschreibe die Kleider. Sie will sie haben. Es würde ihr alles stehen. Sehr bald schon beschwört sie mich jedoch, wieder aufzubrechen, da an anderer Stelle eine faszinierende Seite der Stadt auf mich warte. »Los, fahr schnell wieder ­ zurück«, sagt sie. Ich verlasse ihr Zimmer und laufe einem Krankenpfleger in die Arme. Er macht einen Scherz über die Art, wie ich meine Bluse geschnürt habe: »Sie tragen ihn verkehrt herum, Ihren Jean-Paul Gaultier.« Jawohl, er macht sich über mich lustig. Und jawohl, ich bin lächerlich in meinen Klamotten, die die Modebranche an jenem Morgen kaum wahrgenommen hat.
    Am nächsten Tag gebe ich mir bewusst Mühe, mich schlichter zu kleiden. Verhüllt von einem dicken Strickteil wirke ich zehn Jahre älter, aber ich bin von einer wohligen Schutzschicht umgeben, und ich bin so müde. Die Modenschauen, die Klinik, die Modenschauen. Abends eine gesellschaftliche Verpflichtung im Zusammenhang mit meiner Arbeit. Dort tummeln sich zweihundert Grazien, die mit nackten Beinen der Eiseskälte trotzen. Die Männer, fast alle schwul, sehr auf ihre eigene Wirkung bedacht, aus ebendiesem Grunde aber auch bezaubernd, alle mit dem passenden Seidentuch, akkurat gestutztem Nackenhaar, absolut proper und adrett. Ich hoffe, dass mich keiner bemerkt, abgesehen davon, dass mich natürlich jeder grüßt. Doch zum Schluss tritt ein befreundeter Kollege auf mich zu und sagt: »Man ­redet über dich, genauer darüber, dass du heute Abend ein bisschen altbacken wirkst.«
    Ich sehe wahrlich keine Lösung.

I ch hatte beruflich in London zu tun. Hatte sie morgens und abends am Telefon. Sie wollte wissen, warum ich mich nicht eben ins Auto setzen und auf einen Sprung zu ihr hochkommen könne, jetzt und sofort. »Mit deinen langen Beinen«, sagte sie. Ich erinnerte sie daran, dass dies nicht ging, dass es nicht möglich war, dass ich hier drüben auf ­einer Insel in einem anderen Land saß, in einer anderen Stadt. »Ach ja, stimmt …«, fiel es ihr wieder ein. Und sie fügte hinzu: »Entschuldige bitte …« Das war nicht etwa ein Zeichen besonderer Empfindsamkeit, oh nein, es war vielmehr Ausdruck ihres Unbehagens darüber, dass sie die wahren Umstände vergessen hatte. Ich versprach, ihr einige Schachteln After Eight mitzubringen, einen Pullover von Marks and Spencer, in den typischen Pastelltönen der eng­lischen Bonbons. Doch leider kollidierte das, was so lange funktioniert hatte, nämlich das Versprechen, Wiedergut­ machungsgeschenke mitzubringen, mit ihrer zunehmenden Labilität, mit der Vorstellung, dass meine Gegenwart das schönste aller Geschenke war.
    So saß ich also vor Beginn einer Modenschau in London fernab der anderen im Düstern. Man hatte diesen Ort, der normalerweise als Lagerhalle diente, umgestaltet zur Märchenkulisse für eine Schau. Alle planvoll inszenierten Vergnügen haben etwas Pathetisches. In einem benachbarten Raum war eine improvisierte Bar aufgebaut worden, und ich nahm die schemenhaften Umrisse sowie das gedämpfte Stimmengewirr eines ganz eigenen Völkchens dort drüben wahr. Außer mir hatten bereits mehrere andere ihre Sitzplätze eingenommen. Die Stimme der Callas erfüllte die Dunkelheit. Eine junge Asiatin sichtete akribisch ihre Mails. Ein Mann, der die Nacht zuvor zu lang gefeiert hatte, lag der Länge nach auf eine Bank hingestreckt. Ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher